vergiss jetzt nicht.
Hier hatten die Drachen gehaust.
Ihre Flügel umfassten die Luft, ihrer Kehle entstiegen Flammen, das Wasser am Ufer schäumte, und der Fels unter ihnen stöhnte.
Und in Menschengestalt gingen sie über die Regenbogenbrücke in ihren Horst, in ihr Schloss, in ihr Haus ...
Als ob er vergessen hätte, wer er war, schritt Viktor auf das vielfarbige Band zu. Und vernahm einen Schrei hinter sich.
Ritor und die sich an ihn klammernde Loj stürzten auf den Platz. Die Katze hämmerte dem Magier ins Gesicht, drückte ihm mit festem Griff den Hals zu, als ob sie bereit
Ritor ergab sich nicht.
Sie wälzten sich über die Steine, ineinander verschlungen wie Liebende. Loj sprang vom Magier weg, brachte sich erneut in Angriffsposition. Viktor sah, wie an ihren Fingerspitzen scharfe Schatten aufblitzten.
Und dann schwang Ritor, der noch nicht dazu gekommen war, die Luftflügel zu schließen, seine Arme. Die gewaltigen Flügelflächen fuhren auf die Frau nieder, drückten sie in den Stein hinein. Loj hatte keine Chance, zu groß war die Gewalt der sich schließenden Flügel. Ihr Schrei verstummte, wurde vom Wind fortgetragen.
Das Oberhaupt vom Clan der Katzen lag in einer Pose, die für einen lebendigen Menschen unnachahmlich war. Sogar für eine Magierin. Der Hals war verdreht, das Rückgrat gebrochen.
Loj Iwer war tot.
»Du ...« Der Magier der Luft trat auf Viktor zu, als sei es an ihm, vor Hass zu ersticken, als wäre es seine Freundin und Geliebte, die dort tot auf den kalten Steinen lag. »Du bist schuld! An allem!«
»Ich bin einfach nur hierhergekommen, Ritor! Ich bin nur an dem Ort, an den ich kommen musste.«
Die Kraft des Drachentöters heulte auf und bahnte sich einen Weg ins Freie, die Kraft des Drachentöters suchte einen Ausweg. Aber aus irgendeinem Grund durfte er es nicht zulassen.
»Du hast also gewonnen? Ja?« Ritor sah zum schwarzen Himmel hinauf. »Der Drache ist nicht gekommen! Ich habe dich gejagt ... ich habe alle meine Kräfte aufgewandt ... ich habe Menschen geopfert ... Aber den Drachen habe ich nicht
Wahrscheinlich hätte man einwenden können: »Und warum seid ihr besser?« Man hätte ihn fragen und sich damit ein Späßchen erlauben können.
»Willst du sie aufhalten?«, rief Viktor aus, während er auf die sich nähernde schwarze Front zeigte. In der heranrückenden Kraft konnte er schon ihr Herz spüren. Nicht mehr lange, und diese Kraft würde in Stücke zerspringen. Würde Gestalt annehmen, hier an der Bruchstelle der Welten; für die einen würde sie sich in adlerköpfige Schiffe, für die anderen in nächtliche Ängste, immerwährende Schwermut oder in drückende, Tag und Nacht irremachende Alpträume verwandeln ... Und wer wusste schon, wie viele sich mit Rasierklingen die Pulsadern aufschneiden würden, nur um diesem Schrecken zu entgehen?
»Es ist zu spät«, schrie Ritor.
Der Wind zerrte am Umhang des Magiers, der Wind, über den er schon keine Gewalt mehr hatte. Nur die eingesunkenen Augen in diesem gequälten Gesicht lebten noch weiter. Der auf Viktor geheftete Blick war nicht mehr hasserfüllt. Nur herzzerreißende Schwermut und hoffnungslose Trauer lagen noch darin.
»Du hast gesiegt, Drachentöter! Das hast du doch gewollt, nicht wahr? Du wolltest mir meine Kräfte nehmen? Wolltest verhindern, dass ich den Drachen finde? Du bist der Sieger! Aber was wirst du mit deinem Sieg anstellen?«
Ritor lachte laut auf und streckte dem niedrigen schwarzen Himmel die Arme entgegen. Der Sturm nahm an Kraft zu, riss an der Wolkendecke und stopfte die Löcher in ihr
»Was wirst du mit deiner Kraft tun, Drachentöter?«
Eine Girlande aus Kugelblitzen hing über dem Himmelsgewölbe. Flammengerinnsel flackerten auf, mal verloschen sie, mal verströmten sie ein blendendes Licht. Hinter ihrem durchsichtigen Leuchten wirbelten verschlungen Windhosen und rissen am Leib des Ozeans. Und irgendwo noch weiter, unsichtbar, aber spürbar, kam die Kraft.
»Wirst du in ihrer Welt einen Platz finden?«
Die Felsen erzitterten. Der Schüttelkrampf stieg geradewegs von den Wurzeln auf, stülpte Berge um und zerquetschte die Ebenen. Tief unten am Ufer, wo der Schaum brodelte, bewegten sich Torn und Tel. Viktor blickte zu ihnen hinüber, als versuchte er, einen verspäteten Ratschlag zu vernehmen oder um etwas zu bitten. Aber der Wind brüllte, gab keine Antwort, und die stürmende See gehorchte dem Magier des Wassers nicht länger. Die Wellen schlugen zu, und Tel kam auf den Steinen ins Rutschen; Torn blieb stehen, fasste sie an der Hand, versuchte sie zu halten.
»Ihre Welt wird es nicht geben«, sagte Viktor.
Die Felsen unter ihren Füßen bröckelten. Nur das Schloss über der Welt stand reglos, als ob die Kraft der früheren Herrscher es bis zu diesem Tag schützen würde. Über die schwarzen Steine der Mauern tanzte der Widerschein der Blitze, die Kuppeln leuchteten in matt-weißem Licht. Die offenen Tore lockten mit einer durchsichtigen Illusion der Gefahrlosigkeit.
»Du kannst sie nicht aufhalten, Drachentöter!« Ritor schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du ihren Drachen besiegst!«
Der Himmel stand in Flammen.
Ein Feuerball explodierte in der Ferne. Ein blutiger Stern erhob sich über dem Meer. Strömender Regen stürzte vom Himmel, ein kalter, scharfer Regen, der die Haut augenblicklich gefrieren ließ.
»Im Namen der vier Elemente ...« Viktor verstummte. So nicht! Irgendwie anders! Dies war nicht das Totenreich, und es war nicht seine Aufgabe, die Graue Grenze zu errichten, die Welten zu verschließen ...
Seine Aufgabe?
Hatte er etwa die Graue Grenze errichtet?
Und in diesem Augenblick begann Loj, die tote Loj, sich zu rühren! Entweder Ritor sah es nicht, oder es war ihm schon alles gleichgültig. Der zerschmetterte Körper der Katze regte sich, streckte sich und nahm unter kurzem, krampfartigem Zittern wieder seine alte graziöse Gestalt an. Ein Moment, und die rothaarige Frau hob den Kopf und warf dem Magier der Luft einen schnellen, zornigen Blick zu.
»Für mein siebtes Leben wirst du mir noch büßen, Ritor!«
Der Wind riss ihr die letzten Stofffetzen vom Leib, und Viktor empfand plötzlich, so unpassend der Augenblick auch sein mochte, eine Welle der Leidenschaft. Und Loj schien das zu spüren, drehte sich um und antwortete ihm mit einem dankbaren Lächeln.
»Was stehst du noch herum, Viktor? Lauf!«
Er verstand noch nicht.
»Zum Schloss, du Dummkopf!« Loj rannte zu ihm hin, noch waren ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. »Zum Schloss, Herrscher! Was stehst du noch herum, Drache?«
Ritor hob den Kopf und warf Loj einen irren Blick zu, dann starrte er Viktor an. Er hob die Hand, als wollte er seine Augen verdecken.
Loj wandte sich zu ihm: »Du hast dein Blut in ihm gespürt, Ritor! Wie konntest du den Rest nur übersehen? Wie? Hast du versucht, jenen Augenblick aus deinem Gedächtnis zu tilgen?«
»Nein!«, kreischte Ritor. »Nein! Das kann nicht sein!«
Loj schubste Viktor, sie deutete auf den glühenden, blutigen Stern am Himmel ... Schon kein Stern mehr - ein Komet ...
»Entscheide dich, Viktor! Entscheide dich, Drache oder Drachentöter! Was willst du? Wer wirst du sein?«
Die Felsen schwankten. Die goldenen Steinplatten fielen in die Tiefe, ins brodelnde Wasser, auf den Weg, über den Torn und Tel liefen. Zum Schloss über der Welt gab es schon kein Durchkommen mehr ... fast kein Durchkommen.
»Willst du, dass sie es tun muss?« Loj sah Viktor direkt in die Augen. »Der Geheime Clan verfügt nicht über die ganze Kraft! Schick deine Frau nicht in den Kampf, Drache! Für sie ist es der Tod!«
Viktor rannte los. Über die zerberstenden Steine, über den sich auflösenden Weg. Die Regenbogenbrücke schmolz unter den Windstößen, die eisigen Regenstrudel woben eine dichte Wand vor ihm. Er tauchte in den Strom ein - woher kam so viel Wasser, der Himmel konnte doch unmöglich so viel Feuchtigkeit gesammelt haben! Er stürzte, wurde weiter getragen, lief schon nicht mehr - schwamm in dem dichten Gemisch aus Wasser und Luft. Viktor wurde immer weiter zum Abgrund hin gezerrt, und plötzlich erkannte er, dass es zu spät war, dass Loj zu spät gekommen war, dass Ritors wahnsinniger Zorn ihn um die kostbaren Minuten gebracht hatte, in denen er es vielleicht noch geschafft hätte, vielleicht noch das Schloss erreicht und die schwarzen Wände berührt hätte ...