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Woher kommst du, Tel? Du hast in der Welt von Casinos und Mercedes-Limousinen nichts verloren. Aber ebenso wenig in schmutzig-grauen, schlafenden Dörfern ...

Der Metrozug fuhr in die Schtschukinskaja-Station ein, und sie stiegen aus. Weiter ging es mit der Straßenbahn, die gemütlich vor sich hin zuckelte.

Ganz allmählich stieg Verwunderung in ihm auf. Vor ihnen erstreckte sich Wald, genauer gesagt Serebrjany Bor[2], [3] wohnten. Tel sah ganz und gar nicht wie ein Töchterchen aus einem solchen Haus aus.

»Wohin fahren wir?«

»Sei still!«, unterbrach Tel ihn ärgerlich. »Es kann sein, dass sie auf uns warten.«

Wie konnte es sein, dass sich ein erwachsener, erfahrener Mann, der schon einiges gesehen hatte, einem dreizehnjährigen, rotznasigen Mädchen unterordnete? Einen ordentlichen Klaps auf den Hintern hatte sie nötig, nicht mehr.

Dennoch verstummte Viktor aus irgendeinem Grund.

Sie kamen an einem FKK-Strand vorbei. Eine Gruppe nackter Männer hüpfte über den Sand - sie spielten Volleyball. Es war ein komisches Schauspiel, aber die vielen nackten Frauen und Kinder rundherum gaben dem Anblick eine alltägliche Note.

Viktor lag ein ironisches »Ich hoffe, wir müssen dahin« auf der Zunge, aber Tel zog schon die Augenbrauen hoch, und ihm verging die Lust, einen Witz zu machen.

Sie wanderten einen schmalen Pfad entlang, der unerhört menschenleer für einen Tag wie diesen war.

»Jetzt musst du aufpassen«, verkündete Tel. »Für sie ist es am günstigsten, wenn sie uns am Übergang erwischen. Dann gibt es keine Spuren. Weder hier noch dort. Falls etwas passiert, wirf dich zu Boden und zieh den Kopf ein. Ich werd schon allein mit ihnen fertig.«

»Hast du einen schwarzen Gürtel oder was?«, erkundigte sich Viktor. Er hatte früher mal eine Weile Karate gemacht, sicher, er war alles andere als ein Chuck Norris oder ein Bruce Lee, aber er konnte sich ganz gut verteidigen. Natürlich nur, wenn er nicht gerade zehn Mann mit Maschinengewehren gegenüberstand oder mit Schwertern.

»Sei still, bitte! Ich hab es dir doch schon mal gesagt!« Sie behandelte ihn wie eine ältere Schwester ihren kleinen begriffsstutzigen Bruder.

Der Pfad machte eine Biegung und folgte dann einem kleinen Hügel hinunter. Tel blieb stehen.

»Wenn was passiert, wirf dich auf die Erde und zieh den Kopf ein«, wiederholte sie.

»Schon gut, ich hab’s verstanden.« Viktor winkte ärgerlich ab. Das fehlte noch, dass dieser Zwerg ihn ständig belehrte.

»Neun, acht, sieben ...« Tel fing an, die Schritte zu zählen. Viktor überschlug im Geiste die Entfernung - ja, genau zehn Schritte bis zur Stelle, wo der Weg eine Kurve beschrieb und nach unten führte.

»Sechs, fünf, vier.«

Das Mädchen war ungewöhnlich, ja fast übernatürlich konzentriert. Wenn dies ein Spiel war, dann glaubte sie jedenfalls fest daran.

Plötzlich trafen ihn eiskalte Wassertropfen auf der Schulter. Automatisch blickte Viktor zum Himmel - weit und breit war keine Wolke zu sehen, der Himmel war klar, die Sonne strahlte, wie auf Bestellung.

»Lauf los«, schrie Tel. Sie packte ihn an der Hand und stürzte Hals über Kopf um die Kurve. Viktor rannte hinter ihr her.

Ein wahrer Wolkenbruch ging auf ihre Köpfe nieder, Viktor wurde dunkel vor den Augen. Über seinen Rücken liefen kalte Rinnsale. Der Wind pfiff.

»Schneller!«, kreischte Tel. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. So völlig durchnässt hatte sie auf einen Schlag ihre ganze Rätselhaftigkeit eingebüßt. Ein ganz normales kleines Mädchen, das in einen Regenguss geraten war.

Ihre Hände tanzten über ihrem Kopf. Viktor schien es, als ob zwischen ihren Fingern mit den vergoldeten Nägeln Blitze aufzuckten.

Zum Teufel noch mal, was ging hier vor?

Sie rannten den schmalen Pfad hinunter, der augenblicklich aufgeweicht war und sich in einen Morast verwandelte. Unter Tels Füßen spritzten Wasserfontänen auf, sie sank fast bis zu den Knöcheln im Schlamm ein.

Viktor kam nicht dazu, sich darüber zu wundern, dass er selbst ganz normal laufen konnte, höchstens etwas schlitterte. Dabei wog er doch viel mehr als das Mädchen, eigentlich müsste er einsinken ...

Wegen des Regens hielt er seinen Blick vor sich auf die Erde gerichtet. Wahrscheinlich hatte er intuitiv gespürt, wann er den Kopf heben musste.

Sie waren rechts und links von ihnen aufgetaucht, acht durchnässte Figuren in ausgebleichten Trainingsanzügen, wie man sie von den Typen auf den Märkten kennt, die bei den kleinen Händlern Schutzgeld einsammeln.

»Stehen bleiben!«

Tel fasste Viktor an der Hand und zerrte ihn mit solcher Kraft hinter sich her, dass er um ein Haar hingefallen wäre.

»Lauf schneller!«, kreischte das Mädchen. Für einen Moment drehte sie sich zu ihm um - ihr Gesicht war voller Blut. Kleine, dunkelrote Tröpfchen, wie von Stecknadelstichen. Woher?

»Stehen bleiben!«, schrien mehrere Stimmen.

Zum Teufel. Viktor hätte nicht einmal mit der Möglichkeit gespielt, allein mit acht Gegnern fertigzuwerden. Er verspürte keinen Wunsch, stehen zu bleiben. Nicht den geringsten.

Sie rannten weiter. Tel, deren Gesicht sich in eine blutverschmierte Maske verwandelt hatte, gab noch immer das Tempo vor. Und wenn sie es nun nicht schafften, einfach nicht schafften - den glitschigen Abhang hinunter konnten sie nicht so schnell laufen. Wenn nun ...

Der Gedanke war so irrsinnig, dass Viktor sich gar nicht erst damit beschäftigen wollte. Er stürzte weiter, hinter Tel her, schubste sie, stieß sie in die Kniekehlen. Sie schrie empört auf, protestierte, während sie auch schon auf den Rücken in den nassen, glitschigen Dreck fiel. Neben ihr ging Viktor zu Boden.

Sie rutschten und schlitterten abwärts, den aufgequollenen, breiigen Weg hinab, immer weiter, als glitten sie die Rinne einer Wasserrutsche entlang. Hinter ihnen schrien ihre Verfolger; der Regen wurde immer stärker, schlug wie Peitschenhiebe auf sie nieder, inzwischen schoss das Wasser schon in einem reißenden Strom den Weg hinunter wie eine Schlammlawine in den Bergen. Was ging hier bloß vor sich?

Von dem Moment an, als Tel ihn auf dem noch trockenen Pfad kreischend hinter sich hergezogen hatte, funktionierte Viktor wie eine Maschine, dachte nicht nach, als ob jemand in seinem Inneren schon alles im Voraus wüsste. Oder war das am Ende auch so?

Der Himmel über ihnen war noch immer wolkenlos. Der Regen war von selbst gekommen, aus dem Nichts. Das kommt vor. Genau wie Sicherungen, die sich von selbst herausdrehen.

Seltsamerweise wurde Viktor einen völlig unpassenden, dummen Gedanken nicht los: Wie würde Tel sein unerwartetes Verhalten finden? Aus irgendeinem Grund glaubte er, dass die rasende Schlitterpartie ihnen das Leben gerettet hatte. Und dennoch ...

Er beruhigte sich erst, als er Tel lachen hörte. Fröhlich und glockenrein. Als wäre ihr Gesicht nicht blutverschmiert und ihr Körper nicht dreckstarrend. Noch in voller Fahrt fasste Viktor Tels Schulter, und es gelang ihm, sie ein wenig zu sich zu ziehen, so dass ihr Kopf geschützt war. Solange sie in dieser Brühe schlitterten, war der Schaden eher moralischer als physischer Natur, aber der erste Stein oder die erste Wurzel, die ihnen in die Quere kam, könnte das ändern.

Und dann wurde der klare, wolkenlose, hellblaue Himmel, aus dem so unpassend der Regen herabrauschte, plötzlich grau. Sie kamen vom Pfad ab und stürzten in etwas Weiches, Rieselndes, Feuchtes.

In einen gewaltigen Berg Herbstlaub.

Starr presste Loj ihre zierlichen Finger an die Schläfen. Sicher, sie konnte nicht hören, worüber Ritor und Torn sprachen. Beide Zauberer waren von einer undurchdringlichen Barriere umgeben, ohne auch nur die kleinste Beschwörungsformel benutzt zu haben. Und allein diese Tatsache konnte einem tödliche Angst machen. Der Clan der Luft achtete stets darauf, mit niemandem verfeindet zu sein. Aber der Grund dafür, dass Ritor Lojs gesellschaftliche Vergnügungen jahrelang verschmäht hatte, war sicher nicht seine Abneigung dagegen, von Angesicht zu Angesicht mit seinem Feind zusammenzutreffen. Loj war eines klar - sowohl Ritor als auch Torn waren bis zum Äußersten gegangen, riskierten alles - in einem Spiel, das keine Regeln kannte. Sie rechnete mit Mord.

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2

SEREBRJANY BOR (dt. Silberwald): Ein großes Wald- und Naherholungsgebiet am nordwestlichen Stadtrand von Moskau. Das Territorium besteht größtenteils aus Kiefernwäldern und liegt in einer Flussbiegung der Moskwa. In der Sowjetzeit befanden sich hier die Datschen hoher Parteifunktionäre, einflussreicher Persönlichkeiten und Diplomaten, später siedelten sich hier vor allem wohlhabende Russen an.

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3

NEUE RUSSEN Bezeichnung für Russen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion durch privates Unternehmertum in kurzer Zeit großen Reichtum erwarben. Der Begriff wird überwiegend negativ verwendet und mit der Nähe zu organisiertem Verbrechen, mit Prinzipienlosigkeit, Gier, schlechten Manieren und schlechtem Geschmack sowie wenig Bildung assoziiert. Der Begriff stammt aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts und fand nicht zuletzt durch massenhafte Witze über diese neue Generation von Russen Einzug in die Sprache.