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»Komm jetzt, los.« Tel zog Viktor an der Hand. Und wieder begannen sie zu laufen.

Der Herbstwald ist vielstimmig und weich. Er umhüllt dich, du verlierst dich in ihm, verschmilzt mit ihm, und schon gehst du nicht mehr, sondern du fliegst, ohne deine Beine zu spüren. So erging es Viktor nicht selten - sogar in den dürftigen, verschmutzten Wäldern der heimatlichen Moskauer Vororte. Hier drang der Wald in ihn ein, vom ersten Moment, vom ersten Atemzug an. Alles kam ihm seltsam bekannt vor, obwohl er viele Bäume nicht bestimmen konnte. Hier zum Beispiel - die Rinde war die einer Hagenbuche, die Blätter aber eindeutig vom Ahorn. Oder dieser hier - sah aus wie eine Erle, aber seine langen silbrig-goldenen Kätzchen an den Zweigen passten zu keinem ihm bekannten Baum.

Der Wald war ihm fremd ... und auch wieder nicht. Viktor hatte das Gefühl, als würde er nach endlos langer Trennung einen Bruder wiedertreffen.

Viktor und Tel rannten über den weichen Teppich aus Blättern, schlüpften durch entlaubtes Gebüsch, vorbei an Waldriesen, die vor langer Zeit umgestürzt waren und nun Platz machten für Licht, Luft und junges Grün. So ist es immer gewesen, das ist kein Grund zu trauern. Der Tod ist eine Waffe des Lebens - nichts weiter.

Bin ich betrunken oder kommt das von der Kälte?, ging es Viktor durch den Kopf. Sein Bewusstsein schwamm. Es erlosch, während es mit Tausenden von Waldstimmen verschmolz, die ihm von allen Seiten ihre Lieder zuraunten. Er konnte ihre Worte nicht verstehen ... bis aus dem Nichts plötzlich das Gesicht von Großmutter Vera vor ihm erschien. Ja! Ja, genau so waren sie durch den entlaubten Novemberwald gelaufen, den durchsichtigen, klingenden Wald, der schon bereit war, das Leichenhemd aus Schnee überzustreifen, sie waren gelaufen, nachdem Viktor in eine Schlucht gestürzt war. Der Großmutter war das silberne Medaillon, das sie immer trug, in die Schlucht gefallen. Und er hatte sich sogleich mit kindlich sorgloser Hilfsbereitschaft darangemacht, die glitschigen Abhänge hinunterzuklettern ...

Seltsam. Als ob sich alles wiederholte. Nur in ausgereifter Form, gewissermaßen eine Umdrehung weiter auf der Spirale der Herausforderungen. Auch die Großmutter hatte ihn damals als Erstes zum Baden an einen See geschleppt. Er hatte gekreischt vor Kälte und Begeisterung, während er im eiskalten Wasser umherplanschte. Und die Großmutter hatte inzwischen am Ufer ein Feuer gemacht - wo zum Glück ein ganzer Haufen Bruchholz herumlag ...

»Warum hast du nicht mit ihnen gekämpft, Viktor?«, fragte Tel im Laufen. »Warum bist du weggelaufen?«

»Ein Kampf ohne die geringste Chance eines Sieges - das ist etwas für Dummköpfe«, antwortete Viktor. Er hatte nie etwas für derartige schöne Sprüche übriggehabt, aber hier in diesem märchenhaften Herbstwald erschienen die Worte passend.

Tel nickte. Geringschätzig? Zustimmend? Oder einfach nur zur Bestätigung?

»Gleich sind wir da«, sagte sie.

Wie fand sie sich hier zurecht? Sie musste tatsächlich von hier stammen.

Und wirklich, sie gelangten an einen See, dessen Wasser stahlgrau glänzte.

»Spring rein!« Tel rannte, als hätten sie nicht gerade mindestens einen Kilometer hinter sich gebracht. »Spring sofort rein, sonst traust du dich nicht mehr!«

Sie ging mit gutem Beispiel voran und flog aus dem Lauf heraus ins Wasser.

Genauer gesagt, flog sie nicht ins Wasser, sondern sie verschmolz mit ihm, tauchte ohne jedes Plätschern und Spritzen mit dem Kopf in den See. Viktor dagegen plumpste wie ein Nilpferd hinein.

Das eiskalte Wasser, so schien ihm, brannte stärker als Feuer. Du kriegst einen Herzschlag, du Idiot, ging es Viktor reichlich spät durch den Kopf.

Aber sein Herz dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

Tel tauchte unerwartet neben ihm auf - ihr fordernder Blick heftete sich auf sein Gesicht. Plötzlich begriff Viktor, dass er keine Kälte spürte. Und auch kein Wasser. Als ob er selbst ein Teil dieses eisigkalten Sees geworden wäre - und dann verschwand das Wasser ganz, verwandelte sich in grauen nebligen Rauch, und mit einem Schlag erschien die Sonne neben ihm. Tief unten erstreckte sich die Erde - leuchtend grün, hellblau, braun.

Grimmig pumpte sein Herz das Blut durch seine Adern. Die mächtigen, angestauten Muskeln forderten einen Kampf. Seinen Körper konnte er nicht sehen - und wozu brauchte er ihn jetzt auch. Dort unten erhoben sich die Türme einer Stadt - sie wuchsen, kamen näher, er eilte ihnen entgegen, er wusste, dass man dort auf ihn wartete ...

Die Stadt war von Angst befallen. Er, der eben noch unterm Himmel gesegelt war, schritt stolz, unsichtbar durch ihre Sträßchen, die leer waren wie zu Zeiten der Seuche. Er war der Richter. Er musste hier richten. Und bestrafen, wenn nötig ...

Dann fühlte er sich plötzlich in einen Palast versetzt. Genauer gesagt, er begriff, dass die mit Mosaiken überzogenen Wände um ihn herum die Wände des Herrscherpalasts waren. Hier gab es Leute. Sie standen dicht gedrängt in einer entfernten Ecke, vermieden es, ihn anzuschauen. Ihn oder jemanden anders? Er wusste es noch immer nicht. Er konnte seinen eigenen Körper nicht sehen - wie bei einem Computerspiel. Nur dass dies kein Spiel war, und sie wussten es, und er wusste es. Zum ungezählten Mal fragte er sich verwundert und zornig, wie jene es wagen konnten, die Gesetze zu brechen, jene, die nicht die Kraft hatten, sich seinem Willen zu widersetzen, die sich nicht trauten, jetzt den Blick zu heben ...

Und dann, ob in einem letzten Anflug von Stolz oder vor schierer Angst, erhob der, der über die Stadt und ihre Leute herrschte, den Blick und sah ihn an - er lächelte. Sein Lächeln war der Tod. Das Urteil und seine Vollstreckung ...

Jetzt konnte er sich umdrehen und gehen. Diese Angst, dieser Augenblick würden für alle Zeiten reichen - sie würden es nie wieder wagen, gegen seinen Willen aufzubegehren. Oder etwa doch?

Warum war es so kalt? Rund um sie herum stand doch alles in Flammen, die Holzwände brannten, die weichen Kissen, die über dem Boden verteilt waren, brannten, und es brannten jene, die es gewagt hatten, gegen ihn aufzubegehren. Warum war es so kalt ...

Tel hatte ihn irgendwie ans Ufer gezogen. Offenbar hatte er das Bewusstsein verloren. Unterkühlung. Woher hatte sie die Kräfte dafür? Viktor schüttelte sich schwach, erhob sich auf die Ellbogen. Alles um ihn herum kam ihm falsch vor, irreal, und er wusste nicht sofort, wo er war. Der Maßstab hatte sich verändert. Im Fiebertraum war er ein Riese gewesen - oder die anderen waren Liliputaner.

Am Ufer brannte ein Feuer. Wie hatte Tel es angezündet? So nass, wie sie war, ohne einen trockenen Faden auf dem Leib, ganz zu schweigen von einem Feuerzeug oder Streichhölzern.

Erst jetzt begriff Viktor, dass er fast ganz ausgezogen war. Seine Jeans, das Hemd und alles andere dampften über dem Feuer vor sich hin. Gott sei Dank trug er wenigstens noch seine Unterhose. Das verrückte Mädchen litt jedenfalls bestimmt nicht an übertriebenen Schamgefühlen.

»So trocknen sie nicht richtig, aber was soll’s«, vernahm er ihre Stimme. »Sonst wärst du erfroren.«

»Tel ...«, begann er. Dieses Mädchen nahm sich eindeutig zu viel heraus! Auch nach allem, was geschehen war. Aber er verstand ohnehin nicht, was hier vor sich ging.

»Alles in Ordnung.« Sie hörte auf, sich ums Feuer zu kümmern, und zog sich schnell aus. Ihr eigener Pullover und die Hose baumelten jetzt neben Viktors Kleidern. Ihre Nacktheit schien ihr kein bisschen peinlich zu sein. »Du hast doch gewählt, nicht wahr?«

»Was gewählt?« Er verstand sie nicht.

Sie richtete sich auf und blickte ihm direkt in die Augen. Streng sagte sie: »Ich darf nicht wissen, was genau du gewählt hast, sag mir einfach, ob du es getan hast.«

Sein Traum kehrte zurück, für einen Moment; er erinnerte sich an die Flamme. Nur an die heiße Flamme. Gewählt?