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»Na, dann müssen wir eben das nächstbeste Restaurant ansteuern«, sagte Viktor. »Eine weiße Tischdecke, silbernes Besteck, eine Kerze auf dem Tisch, vorgewärmte Teller ...«

»Und was liegt auf den Tellern?«, fragte Tel neugierig.

Aus irgendeinem Grund dachte er gleich an Frikadellen und Pelmeni[5]. Der typische Speiseplan eines Junggesellen. Er war schon lange in keinem Restaurant mehr gewesen ... vorgewärmtes Porzellan, gedämpftes Licht, eine Flasche

Viktor blickte zu Tel hinüber. Nein, diese Rolle passte nicht zu ihr - weder zu ihrem Alter noch zu ihrem Benehmen. Nun ja, und er hatte auch nicht gerade viel mit einem Salonlöwen gemein.

»Auf den Tellern ist Haferbrei«, erklärte Viktor mürrisch. »Kalter Brei mit Klumpen.«

»Geht nicht«, entschied Tel. »Wenn du auf Brei bestehst, müssen wir hungrig im Wald übernachten.«

»Und wenn ich nicht darauf bestehe?«

»Dann finden wir eine Unterkunft, und etwas zu essen wird es auch geben.«

Der Wald rundherum war ganz jungfräulich und menschenleer. Dennoch schienen Tels Worte völlig ernst gemeint.

»Machst du auch keine Witze?« Viktor wollte es ganz genau wissen.

»Hinter Cholmogorje liegt eine Siedlung. Sie ist klein, aber dort verläuft die Route, und wir können eine Rast machen.«

Was war das nun wieder, die Route? Viktor fragte nicht nach. Wahrscheinlich war ihm das zuletzt als Kind passiert, dass er - aus reiner Neugier - beschlossen hatte, keine Fragen zu stellen. Die Route - also gut, dann eben die Route. Cholmogorje - auch gut. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er tief in seinem Inneren ohnehin alles wusste. Was die Graue Grenze war, was die Route und was Cholmogorje.

Wieder gingen sie eine Weile, ohne zu reden. Tel gehörte offenbar nicht gerade zur geschwätzigen Sorte Mädchen.

Der Weiße Berg lag schon längst hinter ihnen. Tel blickte immer wieder mal besorgt zur Sonne - sie war offensichtlich beunruhigt. Was nicht zu ihr passte. Viktor hatte sich

Hinter ihrer unbegreiflich sicheren Haltung verbarg sich Dunkelheit. Dunkelheit, die - gleich einem Umhang - Kraft verdeckte.

»Wir kommen langsam vorwärts«, sagte Tel besorgt. »Wir müssen noch die Windbruchschlucht durchqueren, und die Sonne steht schon tief.«

In Viktors Augen hatten sie ohnehin bereits wahre Wunder der Ausdauer vollbracht, zu einem solchen Fußmarsch waren normalerweise nur echte Touristen fähig. Durch diesen uralten Wald voller Bruchholz waren sie gestapft, auf Berge waren sie geklettert - keine Kleinigkeit. Es war einfacher, wenn man nicht wusste, ob man weit gehen musste, aber dennoch ...

»Leg ein bisschen zu, ja?«, bat Tel.

»Kommst du dann noch mit?«

»Ja.«

Natürlich hatte Viktor nach diesem Wortwechsel keine Wahl mehr. Er beschleunigte seinen Schritt und versuchte nicht an den Muskelkater zu denken, den er morgen in den Beinen spüren würde.

»Wenn es dunkel wird«, trieb ihn Tel wenig später an, »beginnen die Unannehmlichkeiten.«

Und wieder beschloss er, nicht nachzufragen, jener tief verwurzelten menschlichen Schwäche, über heraufziehendes Unheil zu sprechen, nicht nachzugeben. Die Sonne glitt schon hinter den Horizont, als sie einen weiteren Weißen - oder womöglich wieder Krummen - Berg hinabstiegen und tatsächlich an die Schlucht gelangten. Sie war nicht tief,

»Bleib mal einen Moment hier stehen ...«, bat Tel.

Viktor nickte, ohne sich umzudrehen. Was ging ihn das an, was sie ...

Nach einer Minute trat Tel auf ihn zu, blieb stehen und blickte angespannt nach vorne.

Eine ganz normale Schlucht. Nichts Schreckliches. Und die versprochene Grenze war weit und breit nicht zu sehen.

»Wir müssen los«, entschied Tel mit einem Seufzen. »Willst du dir nicht eine Waffe suchen?«

»Was für eine?«, fragte Viktor ohne Enthusiasmus. »Einen Stock?«

»Ja, wenigstens das.«

Nach kurzer Suche brach Viktor einen kurzen, ausgetrockneten Ast von einer - wie er glaubte - Esche ab, die vom Sturm oder von ... nein, lieber vom Sturm umgestürzt worden war. Damit konnte er sich höchstens gegen einen aggressiven Pudel zur Wehr setzen, aber Tel sagte nichts. Sie zuckte mit den Achseln und ging los.

»Lass mich vor ...«, begann er, aber er bekam keine Antwort.

So war das also. Darin bestand seine ganze Funktion - mit einem lächerlichen, morschen Stock hinter dem Mädchen herzutraben. Die Leichtigkeit, mit der Viktor den Ast hatte abbrechen können, flößte nicht eben Vertrauen in dessen Wirksamkeit ein.

Aber hier in dieser Wildnis, da er nicht wusste, wo er sich befand, und auch nicht, warum, schien es das Klügste zu sein, sich unterzuordnen ...

»Kannst du kämpfen?«

»Ja.« Viktor hatte beschlossen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Trotz allem war seine Beschäftigung mit fernöstlichen Nahkampftechniken nicht viel mehr gewesen als der Versuch eines friedlichen Intellektuellen, sich Selbstbestätigung zu verschaffen. Sicher, physisch gesehen vermochte er vielleicht das eine oder andere ... aber er hatte sich mehr als einmal die Frage gestellt, ob er im Fall der Notwendigkeit in der Lage wäre, richtig zuzuschlagen. In Gedanken lautete seine Antwort zumeist Ja, aber wer konnte das schon wirklich sagen ...

»Das ist gut. Hier muss man kämpfen können«, sagte das Mädchen.

»Hier, wo ist das?«, bellte Viktor mit zorniger Stimme. Offenbar sehr laut, denn Tel drehte sich zu ihm um und verzog das Gesicht.

»In der Mittelwelt.«

»Das ist die Mittelwelt?«

»Ja.«

»Na wunderbar.« Viktor bemerkte nicht, wie er in Fahrt kam. »Endlich wird mir alles klar. Außerdem gibt es noch die Innenwelt und die Außenwelt ...«

»Nein.«

Er verstummte.

»Es gibt die Mittelwelt und die Welt der Angeborenen und die Andere Seite. Du kommst von der Anderen Seite.«

Es klang nicht gerade beleidigend, aber irgendwie langweilig und alltäglich.

»Und wie sind wir hergekommen? Gibt es ein ... äh ... Tor zwischen den Welten?«

»Es gibt Pfade«, erklärte Tel gleichmütig. »Oder hast du vielleicht ein Tor gesehen?«

Viktor blieb eine Antwort schuldig. Wäre die Stimme des Mädchens nur eine Spur emotionaler gewesen, hätte er vermutlich angefangen zu streiten, entgegen den offensichtlichen Tatsachen hätte er behauptet, dass sie sich in einem Wald am Stadtrand Moskaus befanden. Oder er hätte nach den Details gefragt.

»Tel, ich verstehe, dass jetzt kein guter Augenblick dafür ist, aber ich habe das Recht ...«

»Ja«, stimmte ihm das Mädchen sofort zu. »Aber sprich leiser, und unterbrich mich nicht. Dies ist ein gefährlicher Ort. Es gibt drei Welten ...«

»Genau drei?« Viktor hatte ihre Bitte, sie nicht zu unterbrechen, sogleich wieder vergessen.

»Ich kenne keine anderen ...« Tel verstummte mitten im Satz, und Viktor sah sich alarmiert nach allen Seiten um. Nein, weit und breit war niemand zu sehen. »Warte, das ist nicht richtig«, sagte Tel plötzlich, »es ist schwer zu erklären, was alle wissen ... Also, die Welt ist eins.«

»Danke.« Viktor stimmte ihr aus tiefstem Herzen zu. »Allmählich habe ich schon an meinem Verstand gezweifelt.«

»Schließlich spricht man ja auch bei einem Hemd nicht von einer inneren Seite, einer äußeren und einer Mitte ...«

Darauf wusste Viktor nichts zu sagen.

»Die Welt ist eins. Alles hängt davon ab, wie man sie betrachtet. Von welcher Seite. Du hast sie auf der Anderen Seite von innen betrachtet. Dort ist alles anders als bei uns oder in der Welt der Angeborenen.«

»In der Welt der Angeborenen leben wahrscheinlich Magier und Drachen?«, fragte Viktor beißend.

»Das ist doch egal. Das ist nur die Form. Die Welt ist eins, aber man kann sie von verschiedenen Seiten betrachten. Und von verschiedenen Seiten leben ...«

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5

PELMENI Russisches Nationalgericht, das aus gefüllten Teigtaschen besteht, die in Brühe oder Wasser gekocht werden.