Er musste die Tür schließen.
Er schob sie zu ... und kurz bevor sie zufiel, klammerten sich Finger ganz unten um das Sperrholz. Blutverschmierte kleine Finger mit langen Nägeln, die von einem leuchtend goldenen Lack festlich glänzten, unpassend, aber auch schön neben dem frischen Blut.
Er wusste, er müsste eigentlich erschrecken.
Ob ihn seine tiefsitzende professionelle Routine schützte oder der Funken Ärger von eben noch nicht verglüht war, jedenfalls verspürte er keine Angst. Ebenso langsam und vorsichtig, wie er Minuten zuvor die Finger aus der nackten, wartenden Schraubkappe gezogen hatte, zog er jetzt die Tür wieder auf, und als die blutige Hand abrutschte, drängte er sich vorsichtig durch den Spalt.
Sie lag auf der Fußmatte, die Knie gegen die Brust gepresst.
Ein Teenager. Ein Mädchen, höchstens dreizehn Jahre alt, vielleicht sogar noch jünger.
Ein Rotschopf. Die Haare ziemlich kurz und völlig zerzaust. Sie trug schwarze, enge Hosen und einen dunklen Pullover, der an der Seite aufgetrennt war.
Sie hat viel Blut verloren, war Viktors erster Gedanke. Ein feines, sehr weißes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Nicht totenähnlich, nicht kreidebleich, sondern weiß, richtig weiß.
Bevor er sich über das Mädchen beugte, warf Viktor einen Blick ins Treppenhaus. Es war niemand zu sehen und kein Laut zu hören. Als ob das ganze Haus schon vor langer Zeit ausgestorben und das blutende Mädchen praktisch aus dem Nichts vor seiner Tür gelandet wäre.
Das Mädchen stöhnte hörbar.
Viktor hob den federleichten Körper hoch und bemerkte dabei, dass sich nicht sehr viel Blut unter der Tür angesammelt hatte. Aber diese Gesichtsfarbe - woher rührte sie? Es
Wieder drängte er sich seitlich durch den Türspalt, zurück in die Wohnung, als ob er Angst hätte, die Tür weiter zu öffnen. Der Fernseher im Zimmer murmelte vor sich hin, immerzu irgendetwas Fröhliches, Beruhigendes.
»Tut es weh?«, fragte Viktor. Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, während er das Mädchen vom Flur ins Wohnzimmer trug und aufs Sofa legte, das - zum Teufel damit - von einem abgewetzten weißen Überzug bedeckt war und augenblicklich braune Flecken bekam. »Gleich ...«
Als Erstes musste er einen Krankenwagen rufen. Er hegte keine Illusionen, was ein baldiges Eintreffen seiner Kollegen anging, umso wichtiger war es, den Notdienst so schnell wie möglich zu benachrichtigen.
Dann musste er das Mädchen verbinden. Und die Tür schließen!
»Das ist nicht nötig«, sagte das Mädchen unerwartet laut. »Ruf nicht an ... Viktor.«
Er ließ sich nicht stören, wunderte sich nicht einmal, dass sie seinen Namen kannte. Er begriff instinktiv, dass heute so eine Nacht war, in der er sich über nichts zu wundern brauchte.
Viktor griff zum Telefon, hob den Hörer ab. Und ließ ihn fallen - aus der Sprechmuschel stieg stinkender schwarzer Rauch auf.
»Ruf nicht an!«, wiederholte das Mädchen.
Allmählich kamen sie zusammen - zur Stunde des Grauen Hundes, der trostlosesten Zeit der Nacht. Jener Stunde, in
Aber das ließ sich nun nicht ändern. Es war die Stunde des Grauen Hundes - und Schatten glitten am äußersten Rand der Nacht dahin, die so dunkel war, dass der Blinde behänder als der Sehende wurde. Unter den Umhängen waren die Schwerter nicht zu sehen. Der Grund, weshalb sie sich hier versammelten, verlangte nach anderen Waffen - nicht nach denen, die man für rituelle Duelle mit Seinesgleichen verwendete. Vom Ausgang dieses Treffens hing viel ab. Selbst wenn nicht alle, die sich auf den Weg zu diesem Treffpunkt gemacht hatten, das Ausmaß der Gefahr kannten, so war es doch nicht nötig, irgendjemanden zur Eile zu drängen. Langsam traten die Bäume auseinander, der Wald lichtete sich, jener Wald, den die Holzfäller hundert Jahre zuvor so sorgfältig verstümmelt hatten.
Früher gab es hier Wege und Häuser. Aber die Zeit verschont nichts; die unerbittliche Zeit, der keiner zustimmen will. Inzwischen waren sogar die jungen Bäumchen, des Feuers liebste Nahrung, schon wieder ausgewachsen und hinfällig geworden. Inzwischen zerbröckelten sogar die Steine der Fundamente unter den Wurzeln der Gräser zu Staub ...
Zur Stunde des Grauen Hundes war der Weg gefährlich; aber doch nicht so sehr wie zu anderen Zeiten der Nacht.
Wahrscheinlich für immer ...
In der zerfurchten Erde, über die sich unzählige Male gepanzerte Armeen ergossen hatten, umgeben von einem ausgetrockneten, aufgeriebenen Wald, wo jeder Baum von Kugeln durchlöchert war, auf einem steilen Felsen, der sich über einem See erhob, stand eine Burg. Besser gesagt, das, was von ihr noch übrig war.
Ihre Wachtürme waren nicht von Kanonen und Rammböcken zerstört worden, denn die blieben weit entfernt im Gelände zurück, steckten fest im klebrigen Moos oder stürzten in versteckte Bodenfallen. Nein, ein alles vernichtender Zauber hatte das Werk vollbracht. Nur noch die Fundamente waren übrig geblieben, ein Haufen Steine, dick überzogen von grauem Grind - Magie hatte die Granitblöcke in Schutt und Asche zerlegt. Erdigel bedeckten die gewaltige Wunde, die Spaten dem Graben rund um die Ruine zugefügt hatten.
Man begrüßte einander schweigend - für derartige Treffen war noch keine Etikette erdacht worden. Der Thronsaal war schwerer als alle anderen Räumlichkeiten von der Verwüstung betroffen, denn zu jener Zeit tobte hier der letzte,
Hier lohnte es sich nicht, mit Magie zu hantieren - vor allem nicht mit kriegerischer.
Deshalb hatten sie sich hier verabredet.
Diejenigen, die zuerst eintrafen, stellten sich an der am stärksten zerstörten Mauer auf, als ob sie damit einverstanden wären, dass ihre Silhouetten leichte Zielscheiben abgaben. Ein Zeichen des Vertrauens, des Friedens - aber wie oft hatte sich ein solches Zeichen schon als Falle, als Betäubung für die Wachsamkeit, als gemeines Kalkül entpuppt ...
Trotzdem, es war ein Zeichen des Friedens.
»Wir haben viel zu bereden«, begann der groß gewachsene Mann, der in einen Umhang gehüllt war - der Anführer derer, die zuerst gekommen waren.
»In der Stunde des Grauen Hundes?« Eine Stimme voller Ironie erklang aus der Dunkelheit, wo die stämmigen Gestalten jener, die später eingetroffen waren, kaum auszumachen waren. Jeder wusste, dass man alles, was in dieser Stunde gesprochen wurde, nicht allzu ernst nehmen durfte.
»In der darauffolgenden Stunde gibt es für uns keine Wahrheit«, antwortete der Anführer gelassen. »Die Stunde des Erwachenden Wassers ist nicht unsere Stunde. Und erst recht nicht die eure. Daher dürfen wir keine Zeit verschwenden.«
»Wir hören dich an, Ritor«, willigte die unsichtbare Gestalt ein, scheinbar bereit, auf weiteres Wortgeplänkel zu verzichten. »Der Weg war weit. Wir sind doch nicht vergebens gekommen?«
Ritor ließ die Frage unbeantwortet. Er konnte sein Gegenüber nicht erkennen, und das beunruhigte ihn. Er wandte sich um und warf einen Blick auf seine Gefährten.
Vier an der Zahl, wie man es vereinbart hatte.
Die Brüder Klatt, die schwache Magier, aber ausgezeichnete Krieger waren. Auf ihnen lastete das ganze Gewicht ihrer Sicherheit zu dieser Stunde, wenn die Magie der Luft geschwächt war.
Auch Schatti war dabei, der noch junge, aber schon erfahrene Zauberer. Selbst zur Stunde des Grauen Hundes, der jede Magie verhasst ist, ging von ihm ein kaum spürbarer Hauch von Kraft aus.
Zu Ritors Rechten stand Taniel, sein Neffe. Der Junge hatte sich mit seinen gerade mal sechzehn Jahren bereits den Beinamen »Liebling des Windes« verdient. Für den Clan der Luft war er die Hoffnung der Zukunft.
Eine dunkle, unklare und gänzlich unbegründete Vorahnung überkam Ritor - obwohl es doch zu dieser Stunde, wenn alle Magie der Welt schläft, keine wirklichen Vorahnungen gibt. Er hätte den Jungen niemals mitnehmen dürfen! Auch wenn den Regeln nach einer, der noch kein Mann ist, bei den Gesprächen dabei sein sollte, um das Gesagte mit der ganzen Hitze der Jugend aufzunehmen - ganz gleich.