»Da stimmt was nicht ...«, flüsterte Tel. »Das sind keine ...«
»Dann lass das Mädchen da ... und geh allein weiter ...«, schlug plötzlich ein langer Dünner vor, der bisher geschwiegen hatte.
»In Ordnung, abgemacht.« Viktor machte sich von Tel los, er vermied es, sie anzusehen, und setzte sich in Bewegung. Langsam und offenbar verwirrt gaben die Gestalten den Weg frei. Er schritt zwischen ihnen hindurch und versetzte dem, der ihm am nächsten stand, ohne auszuholen, einen Schlag mit dem Stock. Er traf ihn am Hals.
Der morsche Stock zerbrach wie befürchtet. Aber trotzdem schien dieser Schlag dem Wegelagerer schwer zugesetzt zu haben; er setzte sich mit stockendem Röcheln auf den Boden.
»Ach herrje ...«, schrie der Lange auf. Er warf die Arme hinter den Kopf - und in der schnellen Bewegung lag etwas, was große Unannehmlichkeiten ahnen ließ. Viktor wirbelte herum und trat ihm mit dem Fuß in die Brust. Der Stoß war harmlos, umso mehr, als er aus einer ungünstigen Position ausgeführt worden war. Im Training hätte jeder Anfänger ihn parieren können.
Aber auch dieser Untote erwies sich als höchst unbegabter Kämpfer. War er vielleicht seinerzeit Koch oder Marketender gewesen und hatte nach seinem Tod nichts mehr dazugelernt?
»Uhuhu ...«, erklang es aus der Dunkelheit, als der Stoß Viktors Gegner die Luft aus den Lungen drückte. In der
Aber die Kehle fühlte sich ganz normal an. Und der Leichnam roch sogar angenehm und beruhigend nach Blumen.
Einige Sekunden blieb der Feind ohne Gegenwehr, dann hieb er Viktor mit einer schnellen Bewegung den Ellbogen ins Gesicht, traf ihn aber zum Glück nur an der Backe. Gleichzeitig versuchte er, mit der anderen Hand etwas aus seinem Gürtel zu ziehen.
Erst da nahm Viktor, ohne darüber nachzudenken, was er tat, den Gegner unterm Ellbogen in den Schwitzkasten, zog ihn nach unten und drückte ihm das Knie in den Rücken. Der andere, dieser unfähige Feind, erwies sich als unerwartet leicht und zerbrechlich. Seine Halswirbel brachen sofort und beförderten ihn endgültig ins Reich der Toten. Das Messer, das schon Viktors Körper berührte, erzitterte und löste sich aus den Fingern, die es eben noch umklammert hatten.
Nicht weit von ihm entfernt ging etwas Seltsames vor sich. Die beiden anderen Wegelagerer, die sich schon längst auf Viktor hätten stürzen sollen, zogen sich zurück. Nicht von ihm, sondern von Tel. Das Mädchen ging auf sie zu, während es in einer unbekannten Sprache auf sie einredete. Von irgendwoher kam Licht, und ein schwacher, orangefarbener Widerschein erhellte ihre Gesichter. Ganz gewöhnliche menschliche Gesichter, schlecht rasiert und nicht mehr jung.
»Bitte nicht!«, kreischte auf einmal derjenige, der als Erster geredet hatte. Er drehte sich um und versuchte wegzulaufen
Der letzte Feind flüchtete. Er kletterte den steilen Abhang hinauf, heulte immer wieder auf und schrie in tödlicher Angst, während er sich durch das Gebüsch schlug. Tel verfolgte ihn lange mit den Augen, dann sah sie Viktor an.
»Du wärst auch alleine mit ihnen fertig geworden«, sagte er.
»Nein, nicht mit allen gleichzeitig.«
Viktor beugte sich über jenen, dem er das Genick gebrochen hatte. Im Licht der ungeheuerlichen menschlichen Fackel, die nicht weit von ihnen loderte, konnte man dessen Gesicht erkennen: blasse Haut, feine Züge und sehr große Augen, helle, wirr abstehende Haare. Er hatte etwas Kümmerliches an sich, etwas schwindsüchtig Schwächliches, aber ganz sicher nichts Jenseitiges.
»Ich habe das Gefühl, er ist eben zum ersten Mal gestorben«, sagte Viktor. Dann blickte er zu dem Opfer seines kümmerlichen Knüppels hinüber. An diesem war nun wirklich nichts Ungewöhnliches. Er war mittelgroß, dunkel gekleidet und etwas schmutzig. Er erinnerte Viktor an einen Sanitärtechniker oder Elektriker seiner Wohnungsinstandhaltungsgesellschaft, eine Assoziation, die alles Mitleid für den Betäubten augenblicklich vertrieb. »Der sieht auch nicht nach einem Zombie aus.«
»Das sind keine Untoten«, antwortete Tel ruhig. »Das sind einfach nur Räuber, die sich gedacht haben ...«
»Das heißt, deine ganze Geschichte ... dein Märchen ...«
Mit einem Mal erklang ein verzweifeltes Geschrei aus der Richtung im Wald, in die der letzte Räuber geflüchtet war. Von Schluchzen unterbrochen, steigerte es sich schließlich zu einem hohen Kreischen, ehe es abbrach. Viktor durchlief ein Zittern. Und die Stille, die darauf folgte, war furchtbarer als der Todesschrei.
»Warum?« Tel drehte sich zu dem Geräusch um - sie war nur eine schmale Gestalt, ein fast gewichtsloser Schatten vor einem Leichenfeuer. »Es stimmt alles. Ich wusste nur nicht, dass die Toten die Graue Grenze noch achten. Seltsam ... die Toten erinnern sich besser an den Schwur als die Lebenden.«
Sie schwieg eine Weile, ehe sie nachdenklich hinzufügte: »Oder sie fürchten den Herrn der Grenze mehr als die Lebenden.«
In der Luft machte sich der widerwärtige Geruch von verbranntem Fleisch bemerkbar. Viktor hob das Messer vom Boden auf und wollte es sich hinter den Gürtel stecken, doch dann hielt er rechtzeitig inne, als er die scharfe Klinge bemerkte. Er nahm dem Toten den Gurt mit den Messern und der Feldflasche ab. Außerdem waren da noch ein langer Bogen aus poliertem Holz und ein Köcher mit Pfeilen - alles war auf dem Rücken des Toten befestigt; aber für Viktor hatte diese Waffe keinen Nutzen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tel.
»Was meinst du?«
»Du hast zum ersten Mal jemanden umgebracht.«
Viktor versuchte irgendetwas zu spüren ... doch er nahm kein Gefühl wahr. Nur sein Herz klopfte vom Adrenalinschub. Und um ihn herum war alles ganz deutlich, reliefartig und hell geworden. Wie bei einer leichten Trunkenheit.
»Ich habe dich verteidigt.«
»Und dich selbst auch. Du glaubst doch nicht, dass sie dich hätten gehen lassen?«
»Weiß ich nicht. Aber das spielt keine Rolle, ich lasse ... Freunde nicht im Stich.«
Tel antwortete nicht. Sie trat auf den Leichnam des Bogenschützen zu und gab seinem Kopf mit der Fußspitze einen leichten Schubs, so dass sie sein Gesicht sehen konnten. »Natürlich. Ein Halbelf«, schnaubte sie.
»Ein was?«
»Ein Bastard, ein Mischling aus Mensch und Elf.«
Die verächtliche Bezeichnung klang aus ihrem Mund wie ein trockener akademischer Fachbegriff. »Du meinst ...« Viktor blickte auf das blasse, zarte Gesicht. »Du meinst, seine Mutter ist ein Mensch und sein Vater ein Elf?«
»Natürlich nicht! Elfen finden Menschenfrauen unattraktiv. Dieser hier ist die Ausgeburt einer Elfe und eines Menschenmannes. Wahrscheinlich das Ergebnis einer Vergewaltigung, obwohl, das muss nicht sein.«
»Wenn Elfen keine menschlichen Frauen mögen, warum ...«
»Er war nur ein halber Elf, und ich ... ich bin noch nicht ganz eine Frau. Halbelfen empfinden keinen Ekel vor jungen Mädchen.«
Nach diesen Worten verlor Tel jedes Interesse an dem Toten. Sie ging ein paar Schritte weg, setzte sich auf einen Findling und streckte die Beine aus.
»Viktor, sieh nach, ob er ein Säckchen bei sich trägt. Halbelfen schleppen alles Wertvolle mit sich herum, sie trauen niemandem.«
Dies war eine unangenehme, aber offensichtlich notwendige Maßnahme. Viktor wühlte in den Taschen des Halbelfen, [6].
»Gib mir einen«, bat Tel.
Er war zu hungrig, um nicht ihrem Beispiel zu folgen. Sogar der heftige Geruch des brennenden Fleisches hinderte Viktor nicht daran, augenblicklich in den Fladen zu beißen, der erstaunlich gut schmeckte und stark nach unbekannten Gewürzen duftete.
Endlich fand er das Säckchen - einen schweren ledernen Beutel, in dem eine Handvoll silberner und goldener Münzen klimperte.
»Es muss noch einer da sein«, sagte Tel.
Der zweite Beutel war leichter und kleiner und gefüllt mit glitzernden Steinchen.