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»Offenbar haben sie nicht zum ersten Mal hier an der Grenze ihr Unwesen getrieben«, bemerkte Tel.

Viktor beendete erleichtert die Durchsuchung des Leichnams und rückte von dem Halbelfen ab. Das blasse Gesicht des Getöteten schien nun besänftigend und zart.

»Elfenfrauen sind wahrscheinlich hübsch?«

»Ja, besonders in den Augen der Menschen.«

Tel machte keine Bemerkung dazu, dass Viktor offensichtlich kapituliert hatte und ihren Ausführungen über die Mittelwelt Glauben schenkte. Er war ihr dafür dankbar.

»Wahrscheinlich gibt es ... solche Mischlinge ... öfter, oder?«

»Ach nein, dazu braucht es doch meistens gegenseitige Anziehung.« Und einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Und außerdem würden die Elfenfrauen niemals für alle reichen.«

»Soll ich den auch durchsuchen?« Viktor zeigte auf den betäubten Mann, der noch immer bewusstlos auf dem Boden lag. Tel blickte verächtlich auf den Räuber.

»Das Schwert ist Schund ... so einer trägt kein Geld bei sich. Bring es zu Ende, dann gehen wir.«

Sie stand auf und setzte sich in Bewegung, ohne sich weiter um die beiden Angreifer zu kümmern. Viktor stand da, dann beugte er sich über den Körper und zog das Messer hervor.

Die Augen des Räubers öffneten sich. Nein, wahrscheinlich war er schon lange wach, er hatte sich nur bewusstlos gestellt.

»Bitte, Herrscher ...«, flüsterte er. »Bitte ...«

Viktor erstarrte. Der Räuber machte keine Anstalten, sich zu wehren oder davonzulaufen. Er lag da wie ein Opfertier auf der Schlachtbank, sah ihn mit schicksalhafter Ergebenheit an.

»Wir wussten ja nicht, Herrscher ...«

Viktor blickte in die Dunkelheit - aber von Tel war schon nichts mehr zu sehen.

Er drückte dem Räuber die geschärfte Klinge an die Kehle. Blut wurde sichtbar. Viktor sollte, musste ihn töten ... er spürte das. Oder gab es doch einen anderen Ausweg?

»Du bist mein Sklave«, sagte er.

»Ja, Herrscher ...«

»Dein Leben ist nichts wert.«

Der Mann stimmte ihm offensichtlich zu.

»Geh«, sagte Viktor und steckte das Messer weg, »und erzähle allen, was du gesehen hast.«

Er scheute sich nicht, dem Räuber den Rücken zuzukehren. In dessen Benehmen war etwas Stärkeres als die Angst vor einem überlegenen Kämpfer zu spüren.

»Ich bin dein Sklave ...«, erklang es hinter ihm.

Tel war nicht weit gegangen. Sie stand in zwanzig Meter Entfernung, dort, wo es nicht mehr stank.

»Vielleicht hast du wirklich Recht«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang seltsam verwirrt und schuldbewusst. Sie fasste Viktor an der Hand, und sie gingen eine Minute schweigend vor sich hin. »Verzeih, Viktor ... dass ich dir Ratschläge erteilt habe.«

5

Die Steilhänge rechts und links rückten allmählich auseinander und wurden flacher, am Ende lief die Schlucht einfach aus. Der Wald wurde friedlicher, es gab kaum noch Bruchholz. Unter dem sternenlosen, wolkenverhangenen Himmel, in nahezu biblischer Finsternis stießen Viktor und Tel schließlich auf einen breiten Weg. Zwar wirkte er so, als wäre er seit langem nicht mehr benutzt worden, aber der Boden war immerhin so festgetreten, dass nichts auf ihm wuchs. Vor dem dunklen Gras und Buschwerk stach der Weg hell hervor.

»Eine alte Handelsstraße«, verkündete das Mädchen. »Früher sind die Karawanen hier entlang zu den Häfen im Süden gezogen. Dann hat die Graue Grenze den Weg gekreuzt, jetzt führt die Straße außen herum. Und wenn jemand hier durch will, muss er durch den Wald und die Schlucht ...«

Viktor bemühte sich im Geiste eine Art Karte zu skizzieren: der Wald, die Schlucht, die Graue Grenze, der Weg, der sie kreuzte.

»Und wohin gehen wir?«

»Zur Route. Da ist eine kleine Siedlung, das hab ich doch schon gesagt. Die Städte rundherum liegen fast alle

Es war wirklich kein schlechter Weg. Tatsächlich eher eine Straße, ohne weiteres könnten hier zwei Lkws aneinander vorbeifahren ...

Nach dem unwegsamen Wald und der Schlucht fiel das Gehen jetzt leichter. Und der kleine Fladen aus der Tasche des Halbelfen hatte ihn in unerwarteter Weise gesättigt und ihm neue Kraft gegeben, fast wie eine Tasse starken Kaffees.

Der Weg wand sich zwischen den Hügeln hin und her, der Wald wurde immer lichter und zog sich zurück. Wahrscheinlich war es eine Täuschung, aber Viktor hatte das Gefühl, dass es heller wurde. Er blickte auf die Uhr - die phosphoreszierenden Spitzen der Zeiger bedeuteten ihm, dass es noch nicht einmal ein Uhr war.

»Ist es noch weit?«

»Nein, noch etwa eine halbe Stunde.« Ihrer Stimme nach zu urteilen, sah sie nichts Ungewöhnliches in derartigen nächtlichen Wanderungen, und offensichtlich erwartete sie auch keine Gefahren mehr. »Halt durch.«

Viktor ächzte vor Wut, sagte aber nichts.

»Deine Kräfte habe ich natürlich überschätzt«, sagte sie selbstkritisch. »Ich habe nicht daran gedacht, dass es für dich schwierig ist, in der Dunkelheit zu gehen.«

»Und du ... siehst du im Dunklen?«

»Ja, natürlich.«

»Bist du vielleicht auch eine Halbelfe?« Viktor meinte es beinahe ernst.

»Nein, Unsinn. Es gibt keine weiblichen Halbelfen. Niemals.«

Viktor wollte erst bemerken, dass der Phänotyp des Elfenwesens offenbar eng mit dem männlichen Geschlecht, also mit dem X-Chromosom verbunden sei, besser gesagt, dass alle weiblichen Halbelfen bereits im embryonalen Stadium einer letalen, also tödlichen Mutation ausgesetzt seien, aber aus irgendeinem Grund wollten ihm seine Auslassungen über die Vererbungsgesetzmäßigkeiten der Elfen nicht über die Lippen kommen.

»Aber woher hast du die Fähigkeit? Das hatte ich wohl mit den Räubern gemein - sie hat die Dunkelheit auch gestört.«

»Viktor, darf ich denn gar keine Geheimnisse haben?«

Es hatte keinen Sinn, darüber zu streiten.

»Dann sag mir, wo du wohnst.«

»Wozu?«

»Wie wozu? Ich soll dich doch nach Hause begleiten.«

Es sah so aus, als sei es ihm gelungen, Tel in Verwirrung zu stürzen.

»Gut, du bringst mich nach Hause, und was machst du dann?«

»Ich kehre zurück.«

Tel schwieg lange, ehe sie schließlich fragte: »So mir nichts, dir nichts willst du zurückkehren? Du glaubst mir doch, oder? Du hast es doch schon selbst erkannt? Du weißt, dass man die Welt auch anders sehen kann, als man es gewohnt ist. Und trotzdem willst du zurück? In diese Stadt, in dein blödes Haus, willst wieder diesen Gestank einatmen und deine Zeit mit nutzlosem ...«

»Tel!« Er unterbrach das Mädchen. »Ich lebe dort. Verstehst du nicht? Und dort leben meine Verwandten, meine Freunde. Und ich habe meine Arbeit, entschuldige bitte, aber die ist sicher angenehmer als ... anderen Leuten die Kehle durchzuschneiden.«

»Aber du bist doch ...« Ihre Stimme versagte. »Viktor ...«

»Was?«

»Vielleicht habe ich mich getäuscht ...«, sagte sie nachdenklich.

»Worin?«

»Na in dir! Viktor, du sollst hier leben! Verstehst du? Wenn ein Mensch nicht mehr mit seiner Welt übereinstimmt, trennt diese ihn von sich ab. Stößt ihn ab. Wirft ihn raus. Glaubst du etwa, es ist ein Zufall, dass bei dir zu Hause alles kaputtgeht?«

»So, so.« Viktor blieb stehen, fasste in der Dunkelheit nach Tels Schulter und drehte sie mit dem Gesicht zu sich. »Dann erzähl doch mal. Ich hab genug von deinen Andeutungen.«

Tel begann zu schniefen wie ein ganz normales Mädchen, das man bei seiner Geheimniskrämerei stört.

»Ich glaube, meine Geduld ist erschöpft«, fuhr Viktor fort. »Erst nehme ich eine Verrückte auf, eine, die in der Dunkelheit sehen kann und deren Wunde innerhalb von einer Nacht verheilt, die keine Komplexe kennt und keine Gefühle zeigt. Dann stürze ich hinter ihr her in den Wald, wo ich vor irgendwelchen Idioten davonlaufen muss und im Nirgendwo lande. Ich springe in eiskaltes Wasser und hüpfe hinterher nackt ums Lagerfeuer, höre mir Geschichten über verschiedene Welten an und wandere mitten in der Nacht quer durch den Wald. Lasse mich von Untoten erschrecken und bringe Räuber um. Und jetzt soll ich das alles auch noch gut finden?«