»Was willst du, Viktor?«
»Eine Erklärung.«
»Du gehörst nicht in die Welt auf der Anderen Seite.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich. Sonst wärst du nicht hierhergekommen. Aber das Wichtigste ist, dass du hier in unserer Welt gebraucht wirst. Sogar dringend gebraucht wirst.«
»Und du bist gekommen, um mich von einer Welt in die andere zu führen?«
»Ja. Du hättest auch allein kommen können. So ist es normalerweise bei Leuten, die anfangen, ihre Welt anders zu sehen. Früher oder später finden sie den Pfad, den Übergang, und erscheinen hier. Aber du bist zu wichtig. Wir konnten nicht warten und es dem Zufall überlassen. Erinnerst du dich an die Männer am Übergang? Wärst du allein gewesen, hätten sie dich umgebracht.«
»Und wenn ich in meiner Welt geblieben wäre?«
»Hätten sie dich trotzdem umgebracht. Für alle Fälle. Außerdem wärst du nicht dort geblieben. Solche wie du bleiben nicht da.«
Viktor musste lachen. »Sieh mal an. Also dann danke. Schließlich heißt das, dass du mir geholfen hast. Danke.«
Aber sein Ärger wuchs. Wahrscheinlich lag das an der Müdigkeit. Oder vielleicht am weißen, schmalen Gesicht des Halbelfen, an das er sich aus irgendeinem Grund erinnerte.
»Es ist meine Aufgabe, denen zu helfen, die von der Anderen Seite hierherkommen«, sagte Tel. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich Viktors Stimmung verändert hatte. »Lass uns weitergehen. Dort hinter der Biegung liegt schon die Siedlung.«
Der Weg wand sich, beschrieb wieder eine Kurve um einen Hügel. Oder war das vielleicht kein Hügel, sondern ein Hügelgrab? In der Nacht schienen seine Konturen schon allzu gleichmäßig. Wie auch immer ... Viktor hatte die Nase voll von Abenteuern. Seine gewöhnlichen Sorgen und Probleme
»Teufel ...«, flüsterte Viktor vor sich hin, »Teufel ...«
So war das also. Es kam nicht gleich, nicht in dem Moment, wenn das Blut vor Adrenalin kochte und der Kehle ein tierischer Schrei entwich. Dann war alles möglich - töten, den Leichnam durchsuchen und fremde Vorräte verschlingen, während es nach brennendem Menschenfleisch stank. Erst später, in der Stille und Dunkelheit, krochen die erschrocken zurückgewichenen Jahrtausende der Zivilisation wieder herauf, klopften dir auf die Schulter und blickten dir vorwurfsvoll in die Augen.
Tel schwieg, selbst wenn sie verstanden haben sollte, was in ihm vorging. Zumindest dafür war er ihr dankbar. Sie verlangsamten ihre Schritte, während sie die Kuppe des Hügels überwanden - der Weg hatte die Windungen offenbar satt und verlief jetzt schnurgeradeaus.
»Da liegt die Siedlung«, sagte Tel.
Ganz in der Nähe, vielleicht in hundert Meter Entfernung, glommen matt einige Lichter. Viktor zögerte, er verspürte kurz ein unerwartetes Gefühl der Enttäuschung. Sie hatten nur noch wenige Minuten zu gehen.
»Ich dachte, wir müssten irgendwo rüberspringen ... oder raufkraxeln«, gab er zu.
»Warum?«
»Ich weiß nicht ...«
Unbewusst rechnete er damit, Hundegebell zu hören, aber während sie auf die Siedlung zugingen, blieb alles vollkommen still. Vielleicht gab es in dieser Welt keine Hunde? So wie es in der normalen Welt keine Elfen gab.
»Bleib stehen ...« Tel hielt an und griff nach Viktors Hand, jemand kam ihnen entgegen.
Viktor umfasste mit der Hand den Griff des Messers. Der nächtliche Wanderer kam näher. Schweres Atmen und schleppende Schritte waren zu hören. Viktor entspannte sich.
Zumindest gab es Alkohol in dieser Welt.
»Nein ... ich nehme nicht den kurzen Weg ...«, vernahm er aus der Dunkelheit eine männliche Stimme. Entweder hatte der Mensch sie bemerkt, oder er redete mit sich selbst. »Nein ... ich geh durch die Schlucht. Dort ist es dunkel, feucht und schrecklich ... Dort sind die steilen Abhänge ... dort pfeift der Wind!«
Was den Wind anging, täuschte der Mann sich, ansonsten konnte Viktor ihm nur zustimmen.
»Ich geh durch die Schlucht ...«, wiederholte der Betrunkene melodisch sein Vorhaben. »Und mir geht’s wieder gut ... ah ... ich ... werd ... nü-nüchtern!«
Ohne sie zu bemerken, ging er an ihnen vorüber. Das Gesicht konnte Viktor nicht erkennen, aber er begriff, dass es sich um einen sehr kräftigen, groß gewachsenen Mann mit einem ordentlichen Bauch handelte. Als er schon an ihnen vorbei war, hielt er für einen Moment inne und sagte mit trauriger, verständnisloser Stimme und ohne jeden Zusammenhang: »Bleikugeln! Das muss sein!«
Viktor beugte sich zu Tel vor und flüsterte: »Sollten wir ihn nicht aufhalten? Er ist in einem solchen Zustand ...«
»Gerade in einem solchen Zustand wird er ohne Schwierigkeiten ankommen«, antwortete Tel sorglos. »Betrunkene haben immer Glück. Und übrigens können die Toten den Geruch von Alkohol nicht ertragen.«
Viktor fragte nicht nach, warum die Toten Abstinenzler waren. Aus Angst, dass Tel wieder seltsame Erklärungen parat hatte und er wieder völlig unglaubliche Dinge würde glauben müssen ...
Obwohl man meinen sollte, dass im Vergleich zur schieren Tatsache, dass es wandelnde Leichen gab, deren Abneigung gegen Schnapsgeruch gewissermaßen eine zu vernachlässigende Kleinigkeit war.
Der Weg ging in eine richtige Straße über. Sie hatten keine gestampfte Erde mehr unter den Füßen, sondern sorgfältig verlegte Pflastersteine. Hier war es heller - in vielen Häusern waren trotz der späten Stunde noch Fenster erleuchtet, vor einigen brannten Laternen. Viktor sah sich aufmerksam um, er war begierig, die Besonderheiten dieser Welt auszumachen. Etwas Mystisches, Unwirkliches oder zumindest etwas Mittelalterliches.
Aber weit gefehlt!
Ordentliche saubere Häuser mit zwei bis drei Stockwerken. Bei den meisten schien das Erdgeschoss aus Stein und der Aufbau aus Holz zu bestehen. Die Fenster waren verglast. Die Laternen bestanden aus fein ziselierten metallischen Gehäusen, die mit mattem Glas versehen waren, jedoch brannte das Licht darin allzu gleichmäßig.
Aber es war der Knopf neben der Eingangstür eines Gebäudes, der Viktor endgültig aus der Fassung brachte. Ein Knopf! Ein metallischer Knopf, der genau an der Stelle angebracht
»Gibt es hier etwa Elektrizität?«, rief er vorwurfsvoll. Tel blickte ihn verwundert an, so dass er unwillkürlich die Stimme senkte. Das Gesicht des Mädchens sah im Licht müde, fast grau aus.
»Ja und?«
»Warum?«
»Warum sollte es die nicht geben? Oder hab ich dir gesagt, dass die Straßen hier mit Robbenfett und Birkenkienen beleuchtet werden?«
»Nein, aber ... Wenn es hier ...« Viktor stockte, während er verzweifelt nach Worten suchte. »Tel, ich kann schon an all das glauben: an eine andere Welt oder eine andere Seite der Realität. Gott weiß weshalb, aber ich kann das! Gut, hier leben Elfenfrauen, von denen es nie genug gibt und die mit Männern schlafen! Und die Leichen gehen hinter der Grauen Grenze um, die von Zauberern errichtet wurde!«
Tel lächelte herablassend.
»Aber dann - kann es hier keine Technik geben! Keine Elektrizität, keine Lampen, Klingeln oder Maschinen!«
Über ihren Köpfen wurde polternd ein Fenster geöffnet, und eine wütende Stimme zerriss die Nacht: »Ewig diese Sauferei, wie die Schweine ... he, ihr da unten, macht, dass ihr weiterkommt!«
In seiner Wut hätte Viktor um ein Haar zurückgebellt, aber er besann sich noch rechtzeitig. Erstens war seine Position für einen Streit äußerst ungünstig, und zweitens war er wirklich im Unrecht.
»Viktor, du bist müde«, sagte Tel mit weicher Stimme. »Lass uns gehen.«
Gehorsam schritt Viktor hinter dem Mädchen her, als wäre er tatsächlich ein Betrunkener, der von seiner ehrerbietigen Tochter geführt wurde.