Natürlich schlafe ich, dachte Viktor. Woher sollte ein Mensch aus dieser Welt wohl Das Goldene Kalb kennen?
Grinsend starrte ihn der Dicke an. Wie rastlose Handbohrer bohrten sich seine Augen unablässig in den ungebetenen
In dieser Welt wird nur Stärke respektiert, dachte Viktor. Feinheit, Höflichkeit, Friedliebe werden als Schwächen angesehen.
Aber war das nur hier so? Die Welt der Träume war schließlich ein schwaches Abbild der realen Welt. Wenn man jetzt und hier, in diesem konfusen - aber immerhin greifbaren - Traum Streitlust von ihm erwartete, dann bedeutete das doch, dass es in Wirklichkeit genau so war. Seit wann wurden Rücksichtslosigkeit und Unverschämtheit nicht mehr als Schwächen, sondern als Stärken beurteilt? Vielleicht war das noch nicht lange so, aber manchmal erschien es ihm, als ob es für immer wäre ...
Und dennoch hätte er sich in Moskau wohl kaum zu einer derartigen Reaktion entschlossen, die Hand auszustrecken und den Hausherrn schweigend von der Schwelle seines eigenen Hauses zu stoßen.
Er erinnerte sich an die Graue Grenze und das trockene Knacken, als er dem unglücklichen Halbelfen das Genick gebrochen hatte, daher schubste er den Dicken nicht mit voller Kraft. Der jedoch grinste nur schamlos.
»Irgendwie seid ihr Mittelweltler in letzter Zeit etwas schwächlich. Nun denn, du hast mich gestoßen, dann bin ich jetzt wohl an der Reihe ...«
Natürlich war es kein Klaps auf die Schulter. Der Dicke versetzte ihm, ohne auszuholen, einen tadellosen Aufwärtshaken. So schnell und professionell, dass Viktor mit seiner mangelnden Erfahrung nicht mal die Zeit hatte, den Kopf wegzudrehen. Genaugenommen begriff er erst, dass der Schwinger, der ihn in die Luft hob, ein Uppercut war,
Die Wut half ihm augenblicklich wieder auf die Beine. Das ist ganz sicher ein Traum, dachte er wieder. Nur in billigen Kung-Fu-Filmen stehen die Kämpfer nach solchen Schlägen wieder auf. Eigentlich müsste ich einige gebrochene Halswirbel haben, einen zertrümmerten Kiefer und mehrere ausgeschlagene Zähne - aber ich komme hoch, als ob nichts geschehen wäre ...
Jetzt umgab ihn Feuer. Seine Arme warf er wie Flügel zur Seite, versprühte mit ihnen einen züngelnden Ozean versengender Flammen. Wie konnte es dieser ... dieser Wurm nur wagen? Wie konnte er es wagen, die Hand gegen ihn zu erheben? Gegen den Herrscher?
Seine Faust verwandelte sich in einen Klumpen hellroten Feuers. Das vor Wut verzerrte Gesicht des Knirpses blitzte vor ihm auf ... ein zur Abwehr erhobener Arm ... aber es war zu spät.
Viktor schlug den Beleidiger auf den Wangenknochen. Und der flog trotz seines nicht geringen Gewichtes - dem Aussehen nach nicht weniger als eineinhalb Zentner - über die Schwelle hinein ins Haus. Mit lautem Krachen stürzten drinnen irgendwelche Regale um, und ein undeutliches, klägliches Blöken, oder war es ein Miauen?, war zu vernehmen - dann war alles still.
Das Feuer verschwand. Und auch die erdrückende Wut. Viktor schmerzte seine Faust, als hätte er damit auf eine Steinmauer eingeschlagen. Die Haut war an den Knöcheln aufgeschürft. Viktor runzelte die Stirn und rieb sich den Handrücken.
»Na na na, was bist du denn für einer ...«, brummte es weinerlich aus der Dunkelheit. »Warnen muss man ...«
»›Und wer ist dieser Mann? Der Zauberer! Warnen muss man!‹«, äffte Viktor den anderen mit einem Filmzitat nach, denn ihm war augenblicklich Ein ganz normales Wunder[7] in den Sinn gekommen. »Und, wollen wir uns weiter schlagen?«
»Wozu? Nicht vorzeitig«, knurrte es aus dem Inneren des Hauses. »Komm schon rein, worauf wartest du noch? Hilf mir aufzustehen - siehst du nicht, dass das Regal auf mich gestürzt ist? Wenn ich mich rühre, geht alles kaputt.«
Viktor überschritt eilig die Schwelle. Seine Augen gewöhnten sich verdächtig schnell an die Dunkelheit - selbst für einen Traum zu schnell. Im Traum haben wir manchmal Flügel, und unsere Kugel fliegt langsam, ganz langsam aus der Mündung des Gewehrs und in einem langen gewölbten Bogen, aber in der Dunkelheit sehen unsere Augen auch im Traum nicht gut.
Dies war zweifellos ein Laboratorium. Eines, das ganz anders aussah als die normalen, die er kannte, die von der Anderen Seite, wie man in der Mittelwelt sagte. Hier gab es keine Geräte, Aggregate oder Vorrichtungen. Nur mächtige Regale an den Wänden. Aber auf den Regalen stand nicht ein einziges Gefäß, keine Flasche, keine Dose, kein Glas. Unbegreifliche Gegenstände türmten sich dort, einer inneren Logik folgend. Das Feuer im Ofen brannte von selbst, ohne Holz oder Kohle. Einen Moment lang fragte sich Viktor, ob das Feuer vielleicht von Gas genährt wurde.
Aber natürlich gab es dort kein Gas. Nur ein Feuer, das ganz von selbst brannte. Und darüber ein schwarzer, verrußter Kessel mit schartigem Rand. Viktor wurde sogar etwas unbehaglich zumute, denn die Scharten am Kessel erinnerten
Viktor wuchtete das schwere Regal hoch - war es etwa aus Stein? -, und der Knirps erhob sich auf Gnade und Ungnade.
»Danke«, sagte er und schien es ziemlich aufrichtig zu meinen. »Du gehörst jedenfalls nicht zu den Schwächlingen. Nimm es mir nicht übel, aber ich habe nichts im Haus, um dich zu bewirten, wie es bei euch üblich ist. Alles ist in die Sache geflossen.«
»Was für eine Sache?«, fragte Viktor scheinbar beiläufig. Der Kessel hing ohne Befestigung in der Luft, der Geruch, der von ihm aufstieg, war ekelhaft und an Essen gar nicht zu denken.
»Nun ja ...«, antwortete der Knirps unwillig. Er strich sich über den Hinterkopf, hustete und strich wieder über den Hinterkopf.
In diesem Moment begann es in der riesigen Truhe, der einzigen, die es in dem Raum gab, schrecklich zu kratzen und zu rumoren. Sind das am Ende Ratten?, fragte sich Viktor.
Der Knirps krümmte sich, wie einer, der starke Zahnschmerzen hat. Er riss den Deckel hoch, steckte die Hände in die Truhe und verschwand bis zur Schulter darin, ächzte und richtete sich einen Augenblick später wieder auf.
Viktor erstarrte.
In der Faust des Knirpses wand sich, mit den kleinen Armen und Beinen strampelnd, ein winziger Mensch, nur wenig größer als ein Taschenmesser. Er trug einen albernen Hut mit breiter Krempe, ein rotes Hemd und braune Hosen.
»Entschuldige«, nuschelte der Knirps. Er holte aus und schleuderte das kreischende Wesen geradewegs in den Kessel.
Es platschte, und die glühende Flüssigkeit spritzte Viktor ins Gesicht, er riss die Hand hoch, um sich zu schützen ... und in diesem Moment wachte er auf.
Es herrschte Stille. Alles war ruhig. Er befand sich in seinem Zimmer im Hotel oder in der Herberge oder im Gasthof - wie auch immer man es nennen wollte. Seltsamerweise war es noch dunkel. Im Nachbarbett schnaufte Tel kaum hörbar. Alles war in Ordnung, alles war gut.
Nur sein Herz hämmerte, und seine Handflächen waren feucht. Sogar jetzt kam ihm sein Traum im Gegensatz zu sonst nicht zusammenhangslos vor. Ein alberner, unwahrscheinlicher Traum - aber bis zuletzt so überzeugend und so real wie zum Beispiel dieses Hotel.
Tja, Radas Cocktail hatte nichts genützt. Von angenehmen Träumen konnte keine Rede sein.
Nachdem er aus einer Welt in eine andere versetzt worden war, nachdem er Wesen gesehen hatte, die ihren Platz im Märchen hatten, nachdem er getötet hatte ..., konnte er vermutlich keinen Anspruch auf andere Träume erheben. Höchstens auf eine Schlägerei mit einem schwachsinnigen Scheusal, das einen Freddy Krueger im Miniaturformat in seinem Kessel kochte ...
Viktor wälzte sich im Bett herum, er wollte es nicht zu bequem haben, denn er hatte nach diesem Alptraum kein Bedürfnis, noch einmal einzuschlafen.
Aber der Schlaf kam trotzdem, denn Viktor war einfach zu müde. Er brachte keine Träume mit sich, weder schöne noch schreckliche.
Und das war gut so.
7
EIN GANZ NORMALES WUNDER Russischer Märchen-Film-Klassiker mit musikalischen Einlagen von 1978 (Regisseur: Mark Sacharow) nach einem Theaterstück des bekannten Märchenstückautors Jewgeni Schwarc. Darin erfindet ein Zauberer aus Langeweile Märchen und haucht seinen Figuren Leben ein; diese beginnen dann ein Eigenleben zu führen. Eine dieser Märchenfiguren nimmt eine tragische Entwicklung: Eine Prinzessin verliebt sich in einen Prinzen, der in Wirklichkeit ein verzauberter Bär ist; die Verwandlung wird in dem Augenblick rückgängig gemacht, in dem sie den Prinzen küsst.