Dennoch wäre es zu riskant, auf so einen Zufall zu hoffen. Torn hatte dem Drachentöter wahrscheinlich seine besten Leute entgegengeschickt. Ritor musste davon ausgehen, dass der Mann schon die ersten Initiationen durchlaufen hatte. Das würde die Suche nach ihm kaum erleichtern, es sei denn, dieser würde aus lauter Dummheit seine frisch erworbene Kraft gebrauchen. Aber es war immer besser, die Möglichkeiten des Feindes zu überschätzen.
Was sollte er also tun? Den Aufklärern eine Nachricht schicken, damit diese ihre Trüppchen in die verschiedenen Winkel des Landes aussendeten, oder zur Magie greifen? Der erste Weg gefiel Ritor deutlich besser als der zweite ... allerdings war dafür womöglich keine Zeit mehr. Wenn der Drachentöter erst einmal auf seine Aufgabe vorbereitet wäre, kostete seine Vernichtung den Clan der Luft unvorstellbar viel Blut. Dagegen würden alle bisherigen Verluste bedeutungslos erscheinen.
Er durfte nicht mehr warten. Der Drache konnte jeden Augenblick kommen ... nicht umsonst schmerzte Ritors Herz jede Nacht, nicht umsonst zogen verworrene feurige Bilder vor seinen Augen vorbei ... und die Vergangenheit wurde wieder lebendig. Ritor, der Bezwinger des Letzten Drachen, spürte mit seinem ganzen Wesen: Der Augenblick der Wiedergeburt war nahe. Man hätte dem Drachen dabei helfen können - schließlich hatte Ritor nicht umsonst ein
Was hatte sein Bruder gesagt? »Bist du sicher, dass du die Absichten des Feindes erkannt hast?« O ja, er war sich mehr als sicher. Der Drachentöter würde nicht ankommen. Wie traurig es auch war, aber sie würden ihn vernichten müssen. Es war bedauerlich, denn dieser war ja ein völlig unschuldiger Mensch aus einer ganz anderen Welt, aber es ließ sich nicht ändern. Es lebte einmal ein ganz normaler Mensch, ein Menschlein. Vielleicht hier, vielleicht auf der Anderen Seite, vielleicht sogar bei den Angeborenen, wenn bei ihnen überhaupt Menschen lebten. Eines Tages geschah etwas, ein geheimer Mechanismus der Seele schnappte zu, die Fäden der Großen Kraft erbebten, diese Fäden durchdrangen die Welten und verbanden sie miteinander. Irgendwo wurde ein Drache geboren, und irgendwo erschien der Drachentöter. Und machte sich auf den Weg ...
Es war immer die gleiche Rechnung. Das Leben eines Einzelnen oder das Leben Unzähliger, einschließlich jenes ersten Opfers. Es war schändlich, aber nicht zu ändern. Sein Gewissen war schon an derartige Geschäfte gewöhnt. Anders würden die Clans, die es ans Warme Ufer verschlagen hatte, kaum überleben. Nicht einmal hier in der Mittelwelt.
Ritor erhob sich entschlossen. Jetzt wusste er, was zu tun war. Die Abkommen waren gebrochen, Schwerter und Säbel geschärft, die Werber zogen durch die Siedlungen, bisher noch großzügig und rechtschaffen, ohne im Rausch zu überreden, lockten sie die Jünglinge mit dem Klang der
Ritor verließ sein Zimmer. Der Korridor war leer, nicht einer würde sich in seine Nähe wagen, solange er in angespanntes Nachdenken versunken war ... das heißt, siehe da, trotz allem hatte sich einer erdreistet. Der Maître spürte ein leichtes Schwanken des magischen Windes an seinen Schläfen und musste unwillkürlich lächeln. So ein Lausebengel. Aus ihm würde mal was werden - mit der Zeit ...
Der Junge scheuerte noch immer mit demselben Eifer den Boden, der bereits spiegelblank glänzte. Als Ritor näher kam, blickten ihm zwei vorgeblich naive Augen entgegen. Ja, Maître, sehen Sie, im Schweiße meines Angesichts erfülle ich meine Aufgabe ...
»Hast du tatsächlich die Absicht, dieser Beschäftigung bis zur Prüfung nachzugehen?«, fragte Ritor streng.
»Wie Sie es mir aufgetragen haben, Maître.« Der Junge verneigte sich ehrfürchtig, tief in seinen Augen glomm ein ungezügelter Funke. Er musste für seine Lauscherei mit einer sehr viel härteren Strafe als einfachem Bodenscheuern rechnen, aber trotzdem glomm dieser Funke.
»Wie ich es aufgetragen habe«, wiederholte Ritor. »Nun steh schon auf ... Asmund, nicht wahr? Asmund, Sohn des ...«
»Claude des Schuhmachers, Maître«, antwortete der Junge respektvoll, während er eilig, aber erfolglos versuchte, seinen unbändigen Locken ein angemessenes Aussehen zu verleihen.
»Ja, richtig.« Ritor nickte. »Also, Asmund, Sohn des Claude und der Brunhilde, nun sage mir - und sprich die Wahrheit: Was hast du gehört?«
Ritors Wall war absolut. Er war neugierig, wie viele Schichten zu durchbrechen dem Kleinen gelungen war.
Asmund wurde dunkelrot bis über die Ohren. Er war hellhäutig wie seine nordische Mutter. In dem Jungen mischte sich das dicke norwegische Blut mit südfranzösischem.
»Entschuldigen Sie, Maître ...« Seine Augen nahmen nun einen aufrichtigen, schuldbewussten Ausdruck an. »Ich ... ich habe gehört ... dass Sie den Drachentöter mit Zauberei ausfindig machen wollen.«
Ritor spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab.
»Ich ... ich bin Ihnen so dankbar, Maître«, fuhr der Junge inzwischen fort und blickte den Zauberer voller Verehrung an. »Ich verstehe ... das war eine Prüfung ... ich sollte beweisen, dass ich den Wall zu durchbrechen vermag. Ich dachte, dass Sie wahrscheinlich beschlossen haben, mich mitzunehmen ... schließlich soll ja ein Junge bei dem Feldzug dabei sein ... und ich bin nicht schlechter als Taniel ... und nun haben Sie mich geprüft. Ich habe mich sehr angestrengt, Maître. Sagen Sie mir, Maître, ich habe sie doch bestanden, oder?« Und sein leuchtender Blick war fest auf den geliebten Lehrer gerichtet.
Natürlich, dachte Ritor, der Junge kann sich gar nicht vorstellen, dass er die Kraft hat, meinen Wall wider mein Wissen zu durchbrechen. Asmund musste ja denken, dass er geprüft wird. Dieser Teufelskerl ist wirklich begabt. Wer hätte das geglaubt ... Verärgert über sich selbst, schüttelte Ritor den Kopf. Wie konnte ihm so ein Talent entgehen? Wie konnte er das übersehen? Aus Asmund würde einmal ein großer Zauberer werden. Und er musste sich dringend um seinen Schutzwall kümmern ...
Schnell, mit einer einzigen Berührung erforschte er den Jungen. Nein, im Moment wirkte dieser keinen Zauber.
»Nun denn, komm mit.« Ritor bedeutete Asmund, ihm zu folgen. »Du hast Recht, diese Prüfung hast du zufriedenstellend bestanden ... beinahe gut.«
Der Junge biss sich vor Ärger auf die Lippen.
»Damit du dich davon überzeugen kannst«, fuhr der Zauberer unerschütterlich fort, »wirst du mir nun Schritt für Schritt demonstrieren, wie du meinen Wall durchbrochen hast. Und ich werde dir erklären, wo man leichter und schneller vorgehen könnte.«
Ritor hoffte aufrichtig, dass er überhaupt Ratschläge und Erklärungen für den Jungen haben würde. Nun ja, alles Talent in Ehren, aber die Erfahrung war schließlich auch etwas wert ...
Die anderen Angelegenheiten würden warten müssen. Wenn dieser kleine Teufelskerl so viel vermochte, wo war die Garantie, dass Torn nicht genau dasselbe gelang? Außerdem musste er die Kräfte des Jungen ganz genau ausloten, bis in den hintersten Winkel - denn vielleicht wäre dessen naive Annahme am Ende gerechtfertigt.
Zu seiner Truppe sollte tatsächlich ein junger Zauberer gehören, einer mit ungetrübtem, skeptischem Blick.
Obwohl es genaugenommen nicht nur um dessen ungetrübten Blick ging, aber davon brauchte der Junge erst einmal nichts zu wissen ...
»Das ist Wahnsinn, Ritor«, sagte der ältere Roj entschieden.
»Zumindest unvernünftig, Ritor.« Rojs jüngerer Bruder Gaj schüttelte den Kopf.
»So etwas hätte ich nicht von unserem vorsichtigen und vorausschauenden Maître erwartet.« Solli breitete verwundert die Arme aus.
»Tausend Teufel und eine Hafendirne, also mir gefällt der Vorschlag!« Sandra hieb mit der Faust auf den Tisch, mit hochgezogenen Brauen blickte sie in die versammelte Runde. Gerüchten zufolge - die Wahrheit kannte nicht einmal Ritor - war Sandra in ihrem früheren Leben auf der Anderen Seite die rechte Hand eines Piratenkapitäns auf einem Piratenschiff gewesen. Sie war korpulent, hatte eine laute Stimme und war äußerst stark. Zu fechten verstand sie wie nur wenige Männer. Auf ihrem Hals prangte eine scheußliche Narbe - wohl von einem Säbel -, auf die sie allem Anschein nach sehr stolz war. Sie trug goldene Ohrringe in der Form von Totenköpfen mit fünfkarätigen Brillanten als Augen. »Ich hasse es, hier so tatenlos herumzusitzen! Lasst uns dieses Monster aufstöbern und erwürgen. Mit unseren eigenen Händen. Los, Ritor, wir haben lange genug die Ruder getrocknet. Refft das Segel, und dann feuern wir volle Breitseite! Auf mich kannst du zählen, auch wenn diese Landratten hier sich vor Angst in die Hose machen.«