Er drehte sich um. Der Junge, den der Grenzer kurz zuvor weggeschickt hatte, stand vor ihm und hielt ihm ein Bündel hin.
»Nehmen Sie, Herrscher ...«
»Ich brauche eure Geschenke nicht«, sagte Viktor müde. »Bring das deinem Vater. Hast du verstanden?«
»Herr, nehmt es, sonst bringt er mich um.«
Alle Achtung, das war keine rhetorische Wendung. In den Augen des Jungen lag Furcht.
»Was ist das?«, lenkte Viktor ein.
»Eine Jacke, Herr. Ihr habt doch eine Jacke für Euch gesucht.«
Viktor rollte schweigend das Bündel auseinander und befühlte den schwarzen Stoff.
Aber war das Stoff?
Das Material glich am ehesten einer Fischhaut. Einer schwarzen Fischhaut, mit Schuppen in der Größe einer Kinderhand. Das Innenfutter bestand aus kurzhaarigem, ebenfalls schwarzem Pelz. Und ganz gleich, wie Viktor zu der unerbetenen, heftigen Liebe des Grenzers stand, die Jacke war einfach großartig. Sie schien Wärme ebenso wie Schutz vor Wind und Regen, ja sogar vor einem verräterischen Schlag zu versprechen.
»Danke«, sagte er schließlich und kämpfte mit der Versuchung, sie sogleich überzuziehen. »Was schulde ich dir?« Der Junge schwieg erschrocken und schüttelte den Kopf.
»Na gut. Danke noch mal. Aber jetzt könnt ihr gehen, verstanden? Sag deinem Vater, dass wir quitt sind, ich bin ihm sehr dankbar und so weiter ...«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und betrat eilig den Bahnhof. Er stand in einem kleinen Saal, wo vermutlich der Fahrkartenverkauf stattfand. Jedenfalls gab es dort zwei Schalter, hinter jedem langweilte sich offenkundig eine Frau unbestimmten Alters; auf den hölzernen Bänken schliefen zerknitterte Gestalten - entweder Menschen, die wie Gnome, oder Gnome, die nach Menschen aussahen; unter der Decke schaukelte leicht ein staubiger Lüster vor sich hin.
Entschlossen ging Viktor auf einen der Schalter zu und sagte: »Bitte, eine Fahrkarte für den Donnerpfeil.«
»Wohin?«
Ja, wohin eigentlich?
»Nach ... Was ist weiter weg von hier, Luga oder Rjansk?«
»Rjansk«, schnaubte die Frau.
»Dann nach Rjansk.«
»Welche Klasse?«
»Was gibt es denn?«
»Passagierwagen, Schlafwagen, mit eigenem Platz und mit eigenem Abteil.«
Diese Klassifizierung weckte sein Misstrauen. Wenn der Passagierwagen schon keine Schlafmöglichkeit vorsah und der Schlafwagen offensichtlich keinen eigenen Platz ...
»Mit eigenem Abteil.«
Die Frau wühlte in einem Stapel Papiere auf ihrem Tisch herum. Dann nickte sie. »Noch verfügbar. Das macht zwölf Goldstücke.«
Viktor schluckte und öffnete sein Säckchen. Er hatte noch genau elf goldene Münzen. Diese verdammte Gnomfrau mit ihren Zeitungen!
»Geht auch ... Silber?«
»Drei zu eins.«
Viktor hatte eine dunkle Ahnung, dass der reale Wechselkurs von Gold zu Silber in dieser Welt möglicherweise ein anderer war. Aber ... andererseits, wie sollte er streiten, wenn er es nicht genau wusste. Er bezahlte. Danach blieben ihm noch einige Silbermünzen und ganz wenige Kupfermünzen, die der Halbelf offenbar nicht für Geld gehalten hatte.
»Hier, Ihre Fahrkarte.«
Viktor nahm ein Stück Karton aus den Händen der Frau in Empfang, auf dem einige Ziffern vermerkt waren und etwas in der unverständlichen Gnomensprache geschrieben stand.
»Und was muss ich damit tun?«
»Hier steht doch alles!« Die Fahrkartenverkäuferin empörte sich, als hätte sich hinter Viktor bereits eine endlose
Viktor steckte die Fahrkarte in die Hosentasche.
»Und entfernen Sie sich lieber nicht mehr vom Bahnhof, in einer halben Stunde ist es so weit!«, riet ihm die Frau.
Er zog sich in den hintersten Winkel des Saals zurück, wo noch freie Bänke waren, setzte sich und streckte die Beine aus. Er versuchte sich zu entspannen und betrachtete das verblasste Mosaik an der Wand. Das Wandbild stellte eine Art Kampfszene dar - Menschen, Gnome, Elfen, die allesamt Waffen trugen und mit wutverzerrten Gesichtern auf einem offenen Plattformwagen direkt hinter der Dampflok saßen. Aus dem Schornstein wallte Rauch, es blitzten gezückte Schwerter, Pallasche und Säbel, die sorgfältig aus Spiegelstückchen zusammengesetzt waren.
»Doktor ...«
Er blickte sich um. Rada stand hinter ihm. Sie sah sehr ernst und konzentriert aus.
»Wir müssen reden. Du steckst in Schwierigkeiten. Großen Schwierigkeiten!«
7
Viktors erste Reaktion war ein Blick zu seinem Gefolge hinüber. Der Gedanke an Unannehmlichkeiten war für ihn wie selbstverständlich mit den Räubern verbunden. Doch diese standen friedlich an der Kasse, und der Grenzer kaufte Fahrkarten ... natürlich ... und seine Söhne schubsten sich und alberten herum.
»Wem bist du in die Quere gekommen, Doktor?«
»Rada, was meinst du damit?«
Das Mädchen seufzte und setzte sich neben ihn. »Gerade ist eine Gruppe Leute ins Hotel gestürzt ... acht Mann.«
Sie wartete, doch Viktor war immer noch ahnungslos.
»Sie haben nach dir gefragt. Nach einem gewissen Viktor ...«
Viktor zuckte zusammen. Er hatte niemandem im Hotel seinen Namen genannt.
Rada hatte seine Reaktion bemerkt und nickte zufrieden. »Ein Mann, der mit einem Mädchen im Teenageralter unterwegs ist. Sie haben Dersi gefragt, der natürlich nichts gesagt hat; Elfen interessieren sich grundsätzlich nicht für so was ... Aber gleich kommt der Rote, und der wird alles ausplaudern.«
»Warum?«
»Er will auf keinen Fall Unannehmlichkeiten. Die sind vom Wasser!«
»Wie bitte?«
»Vom Clan des Wassers! Einer von ihnen ist ein Magier dritten Ranges, ich hab sein Zeichen gesehen, die Übrigen sind Magierkämpfer. Wer möchte sich schon mit solchen anlegen? Die jagen die ganze Stadt zum Teufel, wenn ihnen danach ist.«
»Rada, ich habe keine Ahnung, was der Clan des Wassers ist ...«
Das Mädchen stöhnte geräuschvoll, doch dann beruhigte es sich wieder. »Ja, natürlich. Du bist ja gerade erst angekommen ... Viktor, in dieser Welt gibt es Magie.«
»Das habe ich bereits gemerkt.«
»Fast alle Magier leben am Warmen Ufer. Sie gehören verschiedenen Clans an, und jeder zeichnet sich durch eine besondere Form der Magie aus. Der Clan des Wassers ist einer von vier Clans, die den Elementen zugeordnet sind. Ihm untersteht die Magie des Wassers!«
Der Übergang! Die acht, die versucht hatten, sie daran zu hindern!
»Ah, jetzt ist es dir eingefallen!«, freute sich das Mädchen. »Viktor, sie suchen nach dir! Gleich werden sie herausfinden, dass du im Hotel warst - entweder vom Roten, oder sie schüchtern einen der Angestellten ein. Und dann zählen sie eins und eins zusammen und kommen schnurstracks hierher zum Bahnhof.«
»Vielleicht schaffe ich es ja noch ...«
»An deiner Stelle würde ich mich nicht darauf verlassen!«
»Was soll ich denn tun, Rada?«
»Ich weiß es nicht ...« Rada hatte sich im Handumdrehen wieder beruhigt und fuhr gleichgültig fort: »Abhauen.
»Und mit ihnen reden ...?«
Rada lachte freudlos. »In ihren Augen ist Tod. Das sind Mörder, verstehst du, Doktor? Vielleicht sogar ein Strafkommando.«
»Strafkommando?«
»So werden diejenigen Magierkämpfer genannt, die von den Clans zu einem einzigen Zweck ausgebildet werden, nämlich alle jene Machthaber der Menschen, Gnome und Elfen zu bestrafen, die die Oberherrschaft der Clans nicht anerkennen. Das sind Mörder. Unser Dorf zahlt seine Abgaben an den Grafen Sotnikow, und der zahlt an den Clan der Erde. Daher hat das Wasser hier formal gesehen keine Rechte ... aber das hat keine allzu große Bedeutung. Umso mehr, als der Clan des Wassers und der Clan der Erde Verbündete sind.«
Viktor hatte das Gefühl, dass ihm von der Masse an Informationen schier der Kopf platzte, aber Rada ließ nicht locker.