»Der Wassergeist bedeutet den Tod. Wir können ihn aufhalten, aber nicht vernichten.«
»Und wir werden ihn aufhalten, Herrscher«, fügte der Jüngere hinzu.
Fanatiker! Wahnsinnige Fanatiker! Mit einem Mal erkannte Viktor, dass ihm dieser Fanatismus, der sich in seinen Dienst stellte, keine Freude machte. Er erinnerte ihn an die verlogenen Geschichten über Soldaten, die sich mit einem begeisterten »Für Stalin« auf den Lippen feindlichen Panzern entgegenwarfen, an japanische Kamikazepiloten, an Wahnsinnige, die sich ans Deck eines Flugzeugträgers krallten, an Sektenmitglieder, die sich auf Befehl eines verrückten Propheten die Pulsadern aufschnitten.
Er drehte sich zu dem Waggon neben ihm, hieb mit der Faust auf die geschlossene Tür und brüllte: »Macht auf! Nun macht schon auf!«
Und die Tür wurde augenblicklich geöffnet. Als ob man dahinter nur auf eine Aufforderung gewartet hätte.
»Was brüllst du hier so rum?«
Auf dem Treppchen - aus blankpoliertem Messing wie auf einem Schiff - stand ein stämmiger Gnom in einer mausgrauen Uniform und mit einem kurzen Stab in der Hand.
»Wir ...« Viktor geriet ins Stocken, als er den Gnom von oben bis unten musterte.
»Was ›wir‹? Was brüllt Ihr so?«
»Wir wollen einsteigen!« Viktor erhob tatsächlich die Stimme.
»Fahrkarten!«
Er holte seine hervor und hielt dem Gnom das Stück Karton hin. Der blickte höchstens eine Sekunde darauf und schob es dann nachlässig in seine Tasche, während er zwischen den Zähnen murmelte: »Herzlich willkommen im Zug ... steigen Sie ein.«
Natürlich war keine Herzlichkeit in seiner Stimme. Entweder hatten seine Kollegen ihn bereits benachrichtigt, oder dieser Gnom hatte auch so begriffen, dass hier etwas nicht stimmte.
»Jungs, eure Fahrkarten.« Einen Moment lang dachte Viktor, dass diese vielleicht in der Tasche des Grenzers geblieben waren. Aber die Jungen reichten dem Gnom schweigend ihre Billetts. Ein weitsichtiger Räuber ... hatte sogar für seinen eigenen Tod vorgesorgt.
»Steigt ein«, knurrte der Gnom.
Aber die Jungen rührten sich nicht vom Fleck. Hatten sie vor, ihre Pflicht bis zum bitteren Ende zu erfüllen? Auf dem
»Wie lange warten wir noch hier?«, fragte Viktor den Gnom.
»Drei Minuten«, antwortete dieser, wenn auch widerwillig. Offenbar fühlten sich die Gnome verpflichtet, gewisse Umgangsformen gegenüber den Reisenden einzuhalten. Trotz allem. »Die Dampfsirene ertönt zweimal ... direkt vor der Abfahrt.«
Viktor wartete mit einem Fuß auf der Messingtreppe, während der Gnom unzufrieden auf die Erdklumpen blickte, die von Viktors Schuhsohle herabbröckelten. Ebenso warteten die Söhne des Räubers.
Nicht umsonst.
Lärm ertönte, ein Schatten stürmte durch den Nebel. Die Jungen schlichen in seine Richtung. Mit einem lauten Fluch sprang Viktor auf den Bahnsteig und zückte ebenfalls sein Schwert.
Aus dem weißen, mullartigen Nebel lief ihnen der Grenzer entgegen. Ein riesiger Bluterguss zog sich über die eine Gesichtshälfte, als hätte man ihm eins mit einem Brett übergezogen. Seine aufgeplatzten Lippen bluteten, und als er den Mund zu einem gequälten Lächeln verzog, konnte man erkennen, dass mehrere Zähne ausgeschlagen waren.
»Hast du das Scheusal getötet?«, rief Viktor ihm zu. Sein Misstrauen hinsichtlich der kämpferischen Qualitäten des Räubers hatte sich völlig gelegt.
»Nein, Herrscher.« Der andere schüttelte den Kopf. Er lispelte etwas, bemühte sich aber, deutlich zu sprechen. »Das steht nicht in meiner Macht.«
»Vater ...« Leise und fragend erklang die Stimme seines ältesten Sohnes.
Der Grenzer blickte ihn an und sagte: »Kress hat seine Pflicht erfüllt.«
»Das ... das tut mir sehr leid«, flüsterte Viktor.
»Danke, Herrscher.«
Der Gnom beobachtete sie beunruhigt und neugierig zugleich. Der Nebel schaukelte sanft hin und her. Irgendwo weiter vorne, bei der Lokomotive, waren Geräusche zu hören, entweder wurde Kohle aufgeladen oder Wasser nachgefüllt.
Wasser ...
»Wie heißt ihr?«, wandte sich Viktor abrupt an die Söhne des Räubers.
Diese sahen einander an. Schließlich antwortete der Älteste als Erster.
»Andrej.«
»Jaroslaw.«
Es war seltsam, diese typisch russischen Namen in dieser herrenlosen Welt zu hören ...
Der Grenzer schüttelte den Kopf, blickte Viktor in die Augen und sagte fest und ohne Schüchternheit: »Vergiss unsere Namen, Herrscher. Binde dich nicht an uns. Wir werden sterben - alle.«
»Warum?«
Der Räuber wischte sich Blut aus dem Gesicht. »So ist es vorhergesagt. Vor Hunderten von Jahren. Das weißt du doch, Herrscher.«
Viktor senkte den Blick. »Ich ... ich weiß es nicht.«
»Du wirst es erfahren. Du wirst dich erinnern.« In der Stimme des Grenzers schwang unerschütterlicher Glaube. »Herrscher ...«
Mit einem Mal streckte er die Hand aus und berührte Viktor an der Schulter, vorsichtig, wie ein Kreuzritter, der die Hände nach dem Heiligen Gral ausstreckte.
»Die Wächter der Grauen Grenze kennen ihre Pflicht. Wenn genug Zeit wäre, würden Tausende von uns kommen. Die Zeit reicht nicht, aber wir tun alles, was ...«
»Vater!« Andrej sah die Feinde zuerst. Also hatte man sie doch noch eingeholt.
Fünf an der Zahl tauchten in einem Halbkreis aus dem Nebel auf und drängten sie gegen den Zug. Und hinter den Angreifern wiegte sich das formlose, gurgelnde Ungeheuer schimmernd im Dunst.
Viktor musterte die Gegner, und sein Blick blieb an demjenigen hängen, der einen kurzen hellblauen Mantel über den Schultern trug. Er wirkte keinesfalls alt, vielmehr alterslos.
»Gotor, Magier des Wassers ...«
Wieder kam sie über ihn, jene Mischung aus Zorn und Kraft; und seine Lippen formten die Worte von selbst, während sich auf den Gesichtern der Feinde Angst breitmachte.
»Wieder trittst du mir in den Weg, Gotor. Ich habe eine Strafe ersonnen, die deiner würdig ist. Ich trinke deine Kräfte und werfe dich zum Sterben in eine verdorrte Wüste ...«
»Töte ihn!«, schrie Gotor. Und durch die Aufstellung der Kämpfer schritt, für einen Augenblick seine frühere Gestalt annehmend, der ungeheure Wassergeist. So schnell, dass die Räuber es nicht verhindern konnten. Seine durchsichtigen Hände schlugen auf Viktor ein, offenbar wollte er ihn in den Bahnsteig hineinrammen.
Als würde man einen Eimer Wasser über ihm ausgießen. Nein, zehn Eimer. Die Pranken des Monsters, die eben noch hart und tödlich ausgesehen hatten, verwandelten sich in fließendes Wasser. Das Ungeheuer kreischte jämmerlich auf, und seinen durchsichtigen Körper durchlief ein Zittern
Durchnässt von Kopf bis Fuß - davor hatte ihn auch die Jacke nicht schützen können - ließ Viktor sein Schwert sinken. Die kalte Dusche hatte die geheime Kraft aus seinem Bewusstsein verjagt, er war wieder er selbst, ein verwirrter, erschrockener Neuankömmling in einer fremden Welt.
Aber das konnten seine Feinde kaum wissen. Sie wichen zurück, suchten den Rückzug - bis Gotor schrie: »Vorwärts! Mit den Schwertern ...«
Die Dampfsirene gellte durchdringend und verschluckte alle anderen Geräusche. Die Kämpfer vom Clan des Wassers zögerten nur wenige Sekunden, ehe sie erneut angriffen.
»Der Zug fährt ab!«, schrie der Gnom und trat einen Schritt höher auf der Treppe.
Viktor überlegte nicht lange. Er wollte sich nicht darauf verlassen, dass er seine vorherige Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert wiedererlangen würde. Er schob die Waffe zurück in die Scheide - wenigstens das gelang ihm -, fasste den jüngsten der Brüder, der sich soeben in den Kampf stürzen wollte, am Arm und schleuderte ihn kraftvoll die kleine Treppe hinauf, geradewegs in die Arme des Gnoms.
Der Gnom wurde von dem unerwarteten Aufprall rückwärts auf den Boden geworfen und stieß einen Fluch in einer unbekannten Sprache aus, aber er schubste den Jungen nicht wieder aus dem Zug. Im Gegenteil, er zog ihn weiter hinein auf die Plattform und streckte dann Viktor die Hand entgegen.