Der fasste die harten, wie aus Stein gemeißelten Finger und schwang sich in den Waggon. Hinter ihm wichen der
Der Zug setzte sich in Bewegung, langsam, aber stetig gewann er an Tempo.
»Vater! Du bist wichtiger!«, schrie der Sohn des Räubers, während er verzweifelt Schwerthiebe parierte. »Steig ein, Vater!« Zum ersten Mal konnte man Angst in seiner Stimme hören.
In der Tiefe seines Herzens war Viktor überzeugt davon, ja, er hoffte es sogar, dass der Grenzer der Aufforderung nicht folgen würde. Das wäre einfach zu viel des Guten, wenn jemand um seinetwillen den eigenen Sohn ins Verderben stürzte.
Aber der Grenzer wehrte einen weiteren Hieb ab und rannte hinter dem Waggon her. Er sprang auf die Stufen, und Viktor, der seinen sinnlosen Ärger bezwingen musste, half ihm hinauf.
Auf dem Bahnsteig ertönte Andrejs Schrei, der sich wie ein Wahnsinniger auf die Feinde stürzte. Die Kühnheit seiner Attacke war so erschütternd, dass diese für einen Moment lang zurückwichen. Aber dann flogen die Schwerter dem Jüngling entgegen, und ihre geschärften Schneiden drangen in seinen Körper.
Doch Andrej stürzte sich noch einmal nach vorne - seine Wut war nicht mehr menschlich, eher tierisch, wie die eines bereits aufgespießten Bären, der wild vor Raserei hinter dem Jäger her stürmt. In einem letzten Kraftakt hieb er einem der Kämpfer den Kopf ab, dann sank er zu Boden, vor die Füße seiner Widersacher. Der Grenzer, der noch immer an den Haltestangen hing und mit ansehen musste, wie sein Sohn starb, stöhnte leise auf. Dann schob er sich auf die Plattform, tat einen Schritt, schwankte und sank auf die Knie.
Wie? Wie nur hatten sie das geschafft?
Viktor beugte sich über den Grenzer und versuchte die Länge der Klinge und die Einstichstelle einzuschätzen. Der Räuber röchelte, blutiger Schaum trat aus seinem Mund und tropfte auf den metallischen Boden.
Der rechte Lungenflügel war durchstoßen. Es gab keine Rettung. Ausgeschlossen.
Der Gnom schob Viktor zur Seite, kletterte achtlos über den Räuber und stellte sich in die Tür. Genau im richtigen Augenblick: Die übrigen Magierkämpfer des Wasserclans rannten auf dem Bahnsteig neben dem sich beschleunigenden Zug her.
»Mach Platz!« Gotors Kreischen gellte in den Ohren.
»Eure Fahrkarten!«
»Du Missgeburt!«, heulte der Magier. »Wie kannst du es wagen!«
»Ohne Fahrkarte fährt keiner auf der Eisernen Route.«
»Wir jagen euch aus euren Höhlen! Wie die Murmeltiere werden wir euch ersäufen! Das werdet ihr uns büßen ...«
Der Gnom zuckte mit den Schultern und knallte die Tür zu. Der Zug schaukelte, während er schneller und schneller wurde.
Jaroslaw, der sich erst jetzt wieder aufrichtete, kroch auf allen vieren zum Vater. Er blickte in sein Gesicht und begann leise wie ein Kind zu klagen.
»Schweig ... mach dem Namen der Wächter keine Schande«, sagte der Räuber angestrengt. Mit verlöschendem Blick sah er Viktor an. »Wir haben alles getan, was wir konnten.«
»Ich weiß.« Viktor antwortete leise.
»Bist du zufrieden, Herrscher?«
Zufrieden? Damit, dass innerhalb von einer Viertelstunde drei junge Männer um seinetwillen ihr Leben gelassen hatten und jetzt auch noch dieser Unglückliche starb?
»Ich bin dir dankbar.«
»Herrscher ... nimm das hier ...« Die Hand des Grenzers schob sich in die Innentasche seiner Jacke, fasste nach etwas und erstarrte für immer.
Viktor öffnete die mit letzter Anstrengung zusammengedrückten Finger des Räubers und nahm aus dessen Hand das, was jener ihm noch so dringend hatte geben wollen.
Es war ein Medaillon. Ein Miniaturporträt in einem ovalen Keramikmedaillon. Für gewöhnlich wurde darin das Porträt eines römischen Kaisers im Profil oder ein übertrieben lieblich gemaltes Frauengesichtchen aufbewahrt.
Auf diesem hier war Viktors Antlitz abgebildet.
Ein violetter Flor umrahmte sein eigenes Gesicht.
Es sah ein wenig strenger aus - im Übrigen konnte jedes Gesicht streng aussehen. Sogar der Kragen seines Hemdes war zu erkennen, das schwarz und falsch geknöpft war. Keine Unterschrift, nichts. Wie eine Fotografie, die jemand auf Stein übertragen hatte.
Nur dass dieses Medaillon uralt war. Vielleicht über hundert Jahre.
Der Junge setzte sich schluchzend neben ihn. Auf das Medaillon warf er nur einen flüchtigen Blick, also kannte er es wohl.
»Was machen wir mit dem Leichnam?«, fragte der Gnom dumpf. »Er war ein kühner Kämpfer. Wenn ihr wollt, kann ich unsere Leute von der Eisernen an der nächsten Station bitten, ihn zu beerdigen.«
Viktor sah zum jüngsten Sohn des Grenzers hinüber, der sich nicht rührte.
»Slawa!« Viktor sprach den Jungen mit der Kurzform an, denn dessen voller, erwachsen klingender Name kam ihm in diesem Moment einfach nicht über die Lippen. »Wie sollen wir deinen Vater beerdigen?«
»Auf seinem Grabstein soll stehen: ›Wächter der Grauen Grenze‹.« Jaroslaw zog die Nase hoch. Eilig trocknete er seine Tränen. »Mehr nicht, Herrscher.«
»Du steigst an der nächsten Station aus«, sagte Viktor. »Du passt auf, dass alles ordentlich gemacht wird. Ich gebe dir Geld für eine Rückfahrkarte.«
»Herrscher!«
»Keine Widerrede!«, bellte Viktor.
Das fehlte gerade noch, dass er auch noch das Leben dieses Kindes auf sein Gewissen nahm. Er stand ohnehin schon in der Schuld der Wächter!
»Dem Herrscher soll man dienen, aber ihn nicht bedienen.« Jaroslaws Augen blickten in die Viktors.
»Natürlich. Und du wirst mir dienen. Du fährst zurück und überbringst Rada, der Wirtin des Restaurants, eine Nachricht. Schluss jetzt, die Diskussion ist beendet.«
Viktor stand auf und ließ das Medaillon in die Tasche gleiten, während der Gnom ihn nachdenklich beobachtete.
»Wo ist mein Abteil?«
8
Es wurde still, ganz still über dem riesigen felsigen Spitzzahn. Ritor machte mit der linken Hand gleichmäßige Bewegungen vor sich in der Luft, als wollte er einen unsichtbaren Vorhang zur Seite schieben.
Zärtliche Luftströme berührten ihre Schläfen, streiften spielerisch über ihre Wangen. Am Himmel über den Köpfen der sieben Magier entfaltete etwas langsam seine Flügel. War es ein Vogel, eine Libelle oder ein Schmetterling? Weiße Fäden fügten sich zu einem Paar gewaltiger Flügel zusammen, welche die ganze Welt zu umfassen schienen, vom Warmen Ufer bis zur unbekannten nördlichen Tundra; noch ein Faden rankte sich, und noch einer; schwer ist es, Spitzen zu klöppeln, besonders, wenn es noch nicht die Stunde der größten Kraft ist.
Ritor gab den Ton und das Tempo vor. Als Ältester war er verpflichtet, alle zu spüren und zu erkennen, wann sie an Tempo zunehmen, wann sie abnehmen und wann sie den Alten die Bürde erleichtern mussten. Wenn er sich hier irrte und die Kraft vergeudete, würde der Wind alles zu Staub zerwehen. Gaj und sein Bruder Roj flochten virtuos. Sie vermochten viel, sehr viel, aber das Alter forderte seinen Tribut. So großartig sie hier auf dem Gipfel des Spitzzahns
Sie mussten beide finden. Den Drachen und auch - ach, wie wunderbar wäre das! - den Drachentöter. Wenn Torn nicht geblufft hatte - und zu bluffen war nicht seine Art -, dann musste der Drachentöter schon hier sein. Und der Drache? Wer wusste das schon ... Auch Ritor konnte sich nicht vollständig auf seine Gefühle verlassen. Die Ankunft des Herrschers fand nicht in einer feierlichen Parade statt, denn auch der Geflügelte hatte noch nicht alle Weihen durchlaufen. Sogar Ritor musste sich der Zauberei bedienen, um jenen, der sich als ewiger Herr der Mittelwelt erwiesen hatte, ausfindig zu machen.