Ritor schrie auf. Es war der rasende Schrei eines Spielers, der nicht nur sein eigenes Leben auf ein Pferd gesetzt hatte, sondern das Leben der ganzen Welt.
»Er ist es! Er ist es!«
Er spürte den Drachentöter - so hell und deutlich, wie es nur ein Bruder vermag.
In diesem Augenblick riss sich der Wind endlich los.
Asmund stöhnte dumpf auf und verlor das Bewusstsein. Ritor konnte seinen taumelnden Körper im letzten Augenblick vom Rand des Abgrunds fortziehen.
»Hinab! Alle hinab!«, schrie Ritor, während er den Strom des Schmerzes auf sich lenkte. »Sandra ...«
Aber weder sie noch Solli hörten ihn noch. Sie benötigten keine Anweisungen. Mit ausgebreiteten Armen standen sie da, versuchten sich auf dem Gipfel des Spitzzahns zu halten und lenkten den zerstörerischen Wirbelsturm hinter den Fluss in die Steppe, so weit wie möglich weg von ihrer Stadt. Die unsichtbare Faust des aufgewühlten Elements traf beide auf die Brust. Ritor sah, wie Sandras Kopf zuckte, wie dampfendes Blut in die Luft spritzte; die Zauberin schwankte, wedelte krampfhaft mit den Armen - ihre weit aufgerissenen Augen waren starr vor Entsetzen -, und mit rasendem Geheul stürzte sie in die Tiefe. Solli hielt sich, er stand - sein Gesicht war entstellt, die Haut auf den Wangenknochen geplatzt, die Augen waren fest zusammengekniffen; Ritor durchfuhr es heiß, denn so schnell hatte der Magier die Formel verändert. Der unsichtbare Hammer raste hinaus über die Stadt ... und Ritor stand immer noch, wie versteinert, und hielt Asmunds Körper umklammert. Dem Hurrikan den Weg zu öffnen war Sandras und Sollis Aufgabe gewesen. Boletus hatte sie sichern sollen ... wo war der eigentlich?
Die Plattform auf dem Gipfel war leer. Weder die Alten, Roj und Gaj, noch der hakennasige Zauberer waren zu sehen. Nur der bewusstlose Asmund, Solli und er selbst. Ritor hielt bis zum Schluss die Flügel zusammen, die bereit waren, jede Sekunde aufzureißen. Denn dann würde die Stadt keine Magie mehr retten können.
Über ihnen braute sich etwas Unvorstellbares zusammen. Das elegante Muster der Flügel verwandelte sich in ein fahlweißes Chaos, Flecken lebendiger Fäulnis auf dem dunklen Körper des Äthers. Ritor erahnte darin ein von unmenschlichem Zorn verzerrtes Gesicht. Der Wirbelsturm knetete und zerrte den weißen Nebel, spann ihn zu gigantischen Windstrudeln über dem steilen Spitzzahn; die heulenden Windströme rasten in Richtung Nordwesten, den von Solli geöffneten Weg entlang, aber ihre Ränder brodelten und wurden auseinandergedrückt, so wie bei Hochwasser die Seiten hölzerner Ablaufrinnen auseinandergedrückt werden; unten am Fuße des Felsens herrschte tödliche Stille - der Vorbote eines vernichtenden Sturms oder ... eines glücklichen Ausgangs.
»Nimm Asmund, und dann nichts wie weg von hier!«, sagte Ritor in scharfem Ton. Aber Solli schüttelte nur den Kopf. Wie er sich hielt, war Ritor ein Rätsel. Gleich einer Rasierklinge hatte der Wind dem Magier das Gesicht zerschnitten. An seinen Schläfen waren schon die Knochen freigelegt. Rinnsale aus Blut zogen sich über seinen Rücken, dennoch stand der Magier noch immer.
Jetzt erreichte der Wind Ritor, krallte sich an seinen Schultern fest, zerrte ihn mit unüberwindlicher Stärke zum Abgrund hin. Asmund wurde über die Steine hinterhergeschleift. Der Junge stöhnte und öffnete die Augen.
»Hinunter mit dir!«, befahl ihm Ritor. Der Junge konnte hier nichts mehr ausrichten. »Linse!«
Asmund nickte gehetzt. Offenbar hatte er begriffen, was er zu tun hatte.
Ritor schleuderte ihn wie einen Sack Mehl über den Rand der Plattform.
Es ist an der Zeit, dass du auslernst, Asmund.
Als Nächstes eilte Ritor Solli zu Hilfe. Zu zweit mussten sie ausharren, bis die am Steilfelsen versammelte Kraft sich erschöpft hatte.
Aber jetzt konnte Solli sich nicht mehr halten. Er hatte alles verloren. Sein Gesicht hatte sich in eine einzige blutige Maske verwandelt. Mit äußerster Grausamkeit hatte der Wind ihm den Skalp vom Kopf gerissen. Einen flüchtigen Augenblick lange wunderte sich Ritor, dass Solli noch am Leben war, dann brachte er den Magier mit einem genau berechneten Stoß in die Kniekehlen zu Fall.
Alles barst auseinander, niemand dirigierte mehr den wirbelnden, reißenden Windstrom, der nun in wilder Freude über seine Freiheit zu tanzen begann, hin und her raste wie ein junger, launischer Stier, von einer Seite zur anderen, und dabei alles zermalmte, was auf seinem Weg lag. Und vermutlich hätte er keinen geringen Schaden angerichtet, hätte der Clan der Luft beim Bau seiner Stadt nicht die Möglichkeit solch willkürlich gewalttätigen Wirkens in Betracht gezogen. Den Höhepunkt seiner Kraft hatte der Hurrikan überschritten; umgerissene Zäune, eingedrückte Fensterscheiben und hier und da entwurzelte Bäume nicht mitgerechnet.
Als das Heulen und Rasen sich gelegt hatte, sah Ritor von oben, wie die Menschen scharenweise aus ihren Häusern auf die Straßen der Stadt strömten. Sie liefen zum Felsen,
Vor Ritors Augen stand das Gesicht des jungen Mannes in seiner schwarzen Jacke und mit dem absurden Elfenschwert in den Händen. Das Gesicht des Drachentöters.
Viktor hatte nicht einen trockenen Faden mehr am Leib. Er zog sich aus, wrang seine Kleider aus und hängte sie an den Wänden des Abteils auf. Dann wickelte er sich in eine dicke kratzige Wolldecke ein und setzte sich ans Fenster.
Wahrscheinlich war seine Platzwahl mit eigenem Abteil ein wenig übertrieben gewesen. Das hier war ein ganzes Zimmer auf Rädern. Die Wände waren mit rosafarbener Seide bespannt, an der Decke hingen zwei Lampen mit Schirmen aus farbigem Glas. Ein großes schweres Bett, das eher in ein Museum als in einen Zug gepasst hätte, ein runder Tisch mit zwei Sesseln und eine mit Flaschen und Krügen gefüllte Bar aus geschnitztem Mahagoni standen darin. So war es richtig, nach dem Wahnsinn auf dem Bahnsteig war nun ein Augenblick der Behaglichkeit gekommen.
Jaroslaw sah ebenfalls zum Fenster hinaus. Viktor fühlte sich nicht ganz wohl neben dem schweigsamen und beherrschten Jungen - nein, das war natürlich keine Gleichgültigkeit und auch kein Zynismus ... Und doch hätte er von einem Jungen, der gerade drei Brüder und den Vater verloren hatte, eine andere Reaktion erwartet.
»Kennst du dieses Medaillon?« Viktor deutete zu dem Miniaturporträt auf dem Tisch.
»Ja.«
»Woher?«
»Es hing bei uns zu Hause an der Wand. Manchmal hat Vater es mit sich genommen ... wenn er für längere Zeit fortging.«
Was für eine erschöpfende Auskunft ...
»Jaroslaw, ich verstehe noch nicht viel von eurer Welt.«
Der Junge rückte ein wenig hin und her auf seinem Platz, blickte aber immer noch zum Fenster hinaus. Dort zogen Hügel und kleine Wäldchen vorbei - eine friedlich-bukolische Landschaft. Je weiter man in die Ferne blickte, umso dichter wurde der Wald, der am Horizont zu einem undurchdringlichen Dickicht verschmolz.
»Vater hat gesagt, dass Sie sich nicht gleich über sich selbst im Klaren sein würden«, antwortete er. »Ich ... ich verstehe schon. Das Medaillon ist das Zeichen der Wächter der Grauen Grenze.«
»Dein Vater war Wächter. Das heißt, er passte auf, dass die Toten nicht ...«
Der Junge wandte Viktor das Gesicht zu und blickte ihn überrascht an. Jetzt begriff Viktor, warum er so stur zum Fenster hinaus gestarrt hatte: In den geröteten Augen des Jungen glänzten Tränen.
»Auf die Toten aufpassen? Aber wieso sollte jemand auf sie aufpassen? Die Wächter sorgen dafür, dass die Lebenden die Toten nicht kränken.«
Viktor wusste nicht, was er sagen sollte - die ganze Situation kam ihm so absurd vor.
»Sie haben doch keine Schuld«, sagte der Junge ein bisschen trotzig. »Sie wurden in die Welt zurückgerufen, gezwungen zu denken und sich zu bewegen, nachdem sie schon gestorben waren. Sie haben schon keinen ewigen Frieden bekommen, da sollte man sie doch wenigstens ungestört in ihrem Reich leben lassen. Die Graue Grenze hindert