Aus seiner Stimme klang Empörung.
»Dabei gehören sie doch zu uns! Das sind unsere Leute! Menschen und Elfen und Gnome. Sie waren nicht schuld an dieser Schlacht und daran, dass man sie danach von den Toten erweckte. Mein Urgroßvater gehört dazu ... und der letzte Herrscher der Elfen und der Rat der Gnome. Die Wächter halten die lebenden Menschen, so gut es geht, von der Grenze fern, indem sie sie erschrecken. Wir ...« - dieses wir klang, als wäre der Junge bereits dreihundert Jahre alt -, »wir sind damals absichtlich dort geblieben. Wir haben einen Schwur geleistet, dass wir unsere Brüder beschützen werden, nachdem wir sie verraten haben und sie schon nicht sterben ließen. Und das tun wir, wir beschützen sie.«
»Deshalb hat dein Vater die Leute überfallen?« Viktor konnte sich nicht zurückhalten. »Um sie von der Grenze fernzuhalten?«
Der Junge senkte den Kopf und sagte leise: »Nein, nicht nur. Aber deshalb auch ... und ... das Leben bei uns ist hart. Es gibt dort fast keine Tiere, die Erde ist unfruchtbar - denn die Grenze liegt direkt daneben. Von irgendwas müssen wir leben ...«
»Ich verstehe«, sagte Viktor. Aber es klang angestrengt, denn er konnte einfach keine Rechtfertigung für Räuberei akzeptieren. Seine Güte hatte auch nie ausgereicht, um Verständnis für die kleinen Straßengauner und die korrupten Staatsdiener zu haben, die das Land zugrunde gerichtet hatten. Und auch das Verhalten dieser Räuber hier konnte er nicht rechtfertigen - ganz gleich, was dafür sprach.
»Sie sind sowieso wütend auf uns«, sagte der Junge. »Ich weiß schon. Sie sind wütend, aber verzeihen Sie meinem Vater.«
»Ich habe ihm verziehen. Ganz ehrlich.« Diese Worte kamen ihm leichter über die Lippen, und Jaroslaw nickte dankbar.
Viktor stand auf, ging zur Bar hinüber, öffnete sie und betrachtete die Flaschen. Schließlich wählte er einen schlichten Krug - am Ende musste er dafür noch extra bezahlen -, nahm ein Kelchglas und kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück.
Das Getränk war göttlich. Kein Brandy, wie er zuerst dachte, sondern ein starker, süßlicher Likör, der Dutzende von Kräutern auf der Zunge erahnen ließ. Auf dem Krug waren irgendwelche Runen eingraviert. War das vielleicht ein Elfengetränk?
»An der nächsten Station steigst du aus«, befahl Viktor.
Der Junge nickte schweigend.
»Sieh zu, dass der Grenzer in Würde beerdigt wird. Dann kehrst du nach Hause zurück. Wer wartet dort auf dich?«
»Niemand.«
»Gehst du auch nicht verloren?«, fragte Viktor nach kurzem Schweigen. Er durfte nicht zulassen, dass der Junge sich an ihn hängte. Auch nicht aus Mitleid.
»Ich gehe nicht verloren.«
»Gut. Ich schlafe jetzt. Weck mich, kurz bevor wir die Station erreichen.«
Der Junge nickte.
»Das dauert noch. Wir müssen die Grenze umfahren.«
Viktor blickte aus dem Fenster, als könnte man in dem Meer aus Wald die Grenze zwischen der Welt der Toten und der Welt der Lebenden erkennen.
Und genau das war der Fall!
Da waren fast unmerkliche, ganz vage und doch unzweifelhafte Kräfte anwesend. Als wäre ein stürmischer Wind durch den Wald gejagt, wichen die Bäume zur Seite, krümmten sich; als wirbelte eine Bö hindurch, brachen Äste ab; als hätte ein stürmisches, in der Höhe verlaufendes Feuer eine Schneise durch den Wald geschlagen, die Baumkronen in Brand gesetzt und verkohlt; als wäre eine Wolke aus Staub aufgewirbelt worden und hätte sich für immer auf dem Laub abgesetzt. Das Band, das sich durch den Wald zog, war fein, fast nicht wahrnehmbar - aber es war auch nach all den Jahrhunderten noch lebendig. Die Absperrung, die Grenze. Die Graue Grenze.
»Im Namen der vier Elemente ...«, flüsterte Viktor.
Wieder rollte es heran, ergriff ihn wie eine Welle - er war schon nicht mehr er selbst oder nicht mehr nur er selbst.
»Mit der Luft und dem Feuer, mit dem Wasser und der Erde - mit den ewigen Kräften trenne ich euch von den Lebenden ...«
Der Zug rüttelte heftig. Die Lampen gingen an und aus. Der Junge saß nicht mehr im Sessel, sondern drückte sich in eine Ecke und starrte Viktor entsetzt an.
»Und ich ziehe die Graue Grenze zwischen euch und jenen, denen es noch bevorsteht zu sterben ...«
Und dann kam es schlagartig über ihn. Wie ein Kontrapunkt. Sein Bewusstsein vernebelte sich. Erdbruch, Wirbel, Wasserstrudel, Flamme ...
Die Letzten. Die zwei Letzten. Die schon seine Kraft spüren, die schon ahnen, dass auch sie nicht standhalten werden. Lodernder Wald, Wasserfluten stürzen vom Himmel, aber sie zischen und verdampfen, haben nicht die Kraft, die aufgequollene Erde zu erreichen. Und er geht durchs Feuer - ihm ist diese Macht gegeben, er hat die Kräfte, um sich allen Elementen entgegenzustemmen.
Und die beiden Letzten erkennen das.
Der Himmel trägt sie nicht länger, die Luft unter ihren Flügeln gibt nach, eine Sintflut drückt sie nieder, und die Erde tut sich auf unter dem ungeheuerlichen Gewicht ihrer schuppigen Körper, und ihre todbringende Flamme, die alle Feinde stets so gehorsam zu Asche versengte, droht nun in den Abgrund zu stürzen.
Das heißt, sie werden ihm mit menschlichem Antlitz begegnen.
Das heißt, auch er wird sie als Mensch einholen.
Die Abrechnung. Für die tausendjährige Herrschaft, für den Grimm und die Unbeugsamkeit, für die Weigerung, auch nur einen Funken der Macht zu teilen, für maßlosen Dünkel und Stolz.
Er ist auserwählt - und er wird zum Banner der neuen Ära. Zum Boten der Freiheit.
Der Wald wird lichter, in der Ferne glitzert das Band eines Flusses, und an dessen Ufer sieht er die Letzten stehen. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt einen schwarzen Harnisch, die Frau eine zerrissene Tunika. Sie hat bei dem flüchtigen Kampf im Himmel mehr abbekommen.
Der Mann im schwarzen Harnisch geht voran, ihm entgegen. Sein Gesicht ist vom vergitterten Visier des Helms völlig verdeckt. In der Hand hält er den Griff eines Schwertes. In seiner Stimme erklingt Müdigkeit - nicht Angst und auch kein Hass. Wenigstens verstehen sie es, mit Würde zu verlieren.
»Warum verfolgst du uns? Wir gehen fort. Wir sind schon auf dem Pfad. Ihr wollt Freiheit? So nehmt sie euch ...«
In seinen Worten liegt Wahrheit, aber die Zeit der Mildtätigkeit ist vorbei.
»Ihr geht nirgendwo hin. Denn ich bin der Drachentöter.«
Der Mann hebt sein Schwert. Vielleicht glaubt er immer noch an seinen Sieg. Vielleicht sucht er einen schönen Tod ...
Es war vorbei. So schnell, wie es gekommen war, und zurückgeblieben waren nur eine brausende Schwere im Kopf und schwache Hände. Der Zug schaukelte über die Gleise, vor dem Fenster zog sich, tief versunken im Wald, die unsichtbare Grenze entlang.
»Was ist mit mir, hm?« Viktor war sich nicht im Klaren darüber, ob er seine Frage an den Jungen oder an sich selbst gerichtet hatte.
Aber der Sohn des Grenzers wusste die Antwort nicht, und Viktor erst recht nicht.
Doch der Junge gab sich alle Mühe. Er schien seine Worte sehr sorgfältig zu wählen. Er versuchte, eine Sache so einfach wie möglich auszudrücken, die noch nie einer Erklärung bedurft hatte. »Die Magier leben in Clans am Ufer des Ozeans. Die Städte der Menschen sind für sie unwichtig. Es gibt die Elementaren Clans. Vier an der Zahl. Sie stehen an der Spitze unserer Welt.«
»Ich verstehe. Davon hab ich schon gehört.«