»Dann gibt es die Tierclans.« Jaroslaw zuckte mit den Schultern. »Das sind Werwölfe. Sie sind fähig, etwas vorzuspiegeln ... sich in Tiere zu verwandeln. Sie sind schwächer, aber auch ihre Kraft ist groß ...«
Er wollte fortfahren mit seiner Erklärung. Aber ganz gleich, ob der Sohn des glücklosen Grenzers sich gut auskannte oder weniger gut, für den Augenblick war es ganz offenbar zu viel für Viktor. Aus der Tiefe tauchten wieder zerstörerische Visionen auf - Feuer und Wasser, einstürzende Berge und reißende Wirbelstürme. Schmerz zerrte an Viktors Schläfen, und er hatte das Gefühl, sein Kopf sei von einem Pfeil durchbohrt worden.
Mit einer Handbewegung brachte Viktor den Jungen zum Verstummen.
Weiter durfte er nicht gehen. Alles, was er aufsaugte, spiegelte sich in seinem Gedächtnis, wie sich in einem gebogenen Spiegel die sengende Hitze der Sonne sammelt. Er konnte nicht zu viel auf einmal davon verkraften. Zu groß war die Versuchung, gleich vom ersten angeblichen Fachmann alles Notwendige in Erfahrung zu bringen, alles fix und fertig präsentiert zu bekommen. Irgendetwas bewahrte Viktor davor ...
»Herrscher.« Der Junge machte sich offenbar Sorgen, als Viktors Schweigen sich in die Länge zog.
»Alles in Ordnung.« Viktor schluckte den Kloß in der Kehle herunter. »Ihr habt mir wirklich geholfen. Ich bin deiner Familie dankbar.«
Vielleicht spürte Jaroslaw die Lüge in diesen Worten. Aber seine Ehrfurcht für den Herrscher war zu groß.
»Kommt die Station bald?«, fragte Viktor.
Der Junge blickte lange zum Fenster hinaus.
»Ja, bald. Noch eine halbe Stunde oder eine Stunde ...«
»Du steigst aus«, wiederholte Viktor. »Hier, nimm.«
Und bei diesen Worten zog er das Säckchen mit den Edelsteinen aus seinen trocknenden Jeans und suchte schweigend drei blutrote Rubine heraus.
»Wir dienen euch nicht für Geld, Herrscher!«
»Ich weiß. Aber ich belohne Treue.«
Unmittelbar nach Loj Iwers Zusammenstoß mit Torn bekamen ihre Kundschafter Aufgaben, die ihnen den Schweiß ins Gesicht trieben.
Denn ... wo war der Clan des Feuers?
Und warum war außer Ritor kein einziger Vertreter vom Clan der Luft zum Ball erschienen?
Und wie hatte es, bitte schön, zu diesem Schlagabtausch zwischen zwei mächtigen Magiern kommen können? Wie konnte Torn es wagen, alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze zu brechen und den Zwist geradewegs hier auf Loj Iwers Ball auszutragen?
Was bedeutete das alles?
Wenn eine Angelegenheit nach »angebranntem Schwanz« roch, wie die Katzen zu sagen pflegten, dann bevorzugte Loj die groben Waffen der Schmeichelei und Verschlagenheit. Schmeichelei, Verschlagenheit und natürlich gute Ratschläge. Dabei war es allerdings vonnöten, dass die Ratgeber nicht bemerkten, dass sie ihr in irgendeiner Weise halfen.
Ein enger Kreis vertrauenswürdiger Freundinnen (wenn man diesen Begriff überhaupt für Katzen verwenden will) hatte sich um sie versammelt, nur drei an der Zahl, aber mehr war auch nicht nötig. »Die Wahrscheinlichkeit einer undichten Stelle wächst proportional zur Anzahl derjenigen, die in ein Geheimnis eingeweiht sind« - diese Regel
Die Großmutter hatte damals auch ihre Gefährtinnen ausgesucht. Das verstand Loj natürlich erst jetzt; es war kein Zufall, dass ausgerechnet die bis zur Selbstaufgabe ergebene Kari, die nie etwas anderes als Bewunderung für Loj hegte, deren beste Freundin geworden war. Die alte Iwer hatte die Fähigkeit, geradewegs in die Menschen hineinzusehen; daher waren von jüngster Kindheit an nur solche Leute in Lojs Umgebung anzutreffen, die vor allem die vorteilhaften Züge des Mädchens zur Geltung brachten. Auf diese Weise wurde auch die kluge, aber freudig im Schatten zurückstehende Kari zu ihrer Vertrauten. Das Gleiche galt für die Jungen, die zu gegebener Zeit anfingen, Loj zu hofieren. Unter ihnen waren keine Schwächlinge und Einfaltspinsel, sondern nur zukünftige Kämpfer und Führer des Clans (wenn man denn dieses Wort überhaupt für die Kater des Clans der Katzen verwenden will). Und die Erzählungen über die Tollheiten der jungen Kater verbreiteten sich in der ganzen Mittelwelt und trugen einiges zu Lojs eigenem Ruhm bei. Klug war ihre Großmutter gewesen; und wenn Loj gelegentlich in den Sonnenuntergang blickte, wohin die Alten des Clans, der Tradition folgend, zum Sterben gingen, dann erinnerte sich die Enkelin mit Wärme an ihre Ahnin ...
»Ich habe Eilboten zum Clan des Feuers geschickt«, sagte Loj. Hinter den Wänden heulte düster der Wind - verdächtig stark heulte er. Hatte der stolze Ritor am Ende befunden, dass man die Katzen nicht aus den Augen lassen durfte? Dann stand es schlecht. Sich mit dem mächtigsten Zauberer der Mittelwelt anzulegen, dazu verspürte Loj nicht die geringste Lust. »Eine Antwort müssten wir übermorgen erhalten ...«
»Und mit welcher Antwort rechnest du?«, fragte Kari.
Loj zuckte mit den Schultern. Dies war einer der seltenen Fälle, in denen man nicht die geringste Ahnung hatte. Für gewöhnlich bestätigten die Nachrichten ihrer Kundschafter bloß ihre eigenen Vermutungen, aber diesmal blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, und das ärgerte die ungeduldige Katze maßlos.
In Lojs Boudoir war es überraschend eng. Im Vergleich zu dem weitläufigen Ballsaal wirkte das befremdlich. Aber daran war nichts zu ändern, denn es entsprach ganz der Natur des Clanoberhaupts: Wahre Behaglichkeit fanden die Frauen des Clans nämlich nur in solchen heimeligen, halbdunklen, mit weichen Kissen ausgelegten Räumlichkeiten. Die Freundinnen lehnten bequem in den Polstern, und jede hatte auf einem Tischchen vor sich einen kleinen Krug mit ihrem Lieblingswein. Aber sie rührten ihre Getränke fast nicht an, sondern schwiegen in dem Bewusstsein, dass die Situation für einen ganz normalen fröhlichen Mädchenabend einfach zu ernst war.
»Es ist irgendwie ungewöhnlich, so über die Ereignisse im Dunkeln zu tappen«, bemerkte die affektierte Lola, die Einzige aus Lojs Umfeld, die von der Anderen Seite stammte. Ihren eigenen Erzählungen zufolge war sie dort eine große Gelehrte gewesen - vergleichbar einem Magier in der Mittelwelt. Aber Loj war schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gekommen, dass die Geschichten derer, die aus anderen Welten kamen, nicht allzu viel Wahres enthielten. Sie waren eher Träume ...
»Wie konnte uns Torn nur entwischen?«, seufzte Ota. Sie war eine starke Persönlichkeit, eine blendende Schönheit und eine gute Magierin. Frauen ihrer Sorte band Loj mit einem einzigen Ziel an sich: um sie immer im Auge zu
»Was ist los mit euch, Mädchen?«, sagte Loj mit gerunzelter Stirn. Sie durfte Ota auf keinen Fall zustimmen. »Wollen wir hier vor Bedauern zerfließen? Wollen wir uns etwa mit Selbstvorwürfen zermartern, weil uns einer entwischt ist? Wir, die Katzen? Wollen wir in Panik verfallen? Wir werden Torn und diesen stolzen Ritor schon noch dazu bringen, nach unserer Pfeife zu tanzen! Sagt mir lieber, was es war, was die beiden nicht teilen konnten.«
»Sicher nicht die Macht«, bemerkte die dunkelhaarige Kari bedächtig. »Ritor hängt nicht daran.«
»Das ist richtig«, stimmte Ota ihr zu. »Er hat noch nie versucht, die Oberherrschaft ...«
»Ritor hat nur eine, dafür aber durch und durch glühende Leidenschaft«, erklärte Lola, »und das sind die Angeborenen.«
»Genau«, pflichtete Loj ihr bei. »Aber was hat das für einen Zusammenhang mit Torn? Das Wasser hat nie viel für die anderen Clans an diesem Ufer übriggehabt ... Ich würde sogar sagen, das Gegenteil war der Fall.«
»Also doch die Macht?« Kari verschränkte ihre schmalen Arme.
»Was Torn angeht, ist das immerhin denkbar.« Lola zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. »Er ist stark ... und ehrgeizig. Reich. Er presst die Abgaben mit allen Mitteln aus seinen Leuten heraus. Und das Strafkommando des Wassers kennt keine Erschöpfung. Könnte es sein, dass sie sich wegen des Clans der Erde in die Haare geraten sind?«