»So heftig, dass sie ihren Streit auf meinem Ball austragen?« Loj schüttelte erregt den Kopf. »So gierig ist nicht einmal Torn.«
»Er hat unsere Gepflogenheiten bislang immer geachtet«, sagte Ota nachdenklich. »Es muss etwas ganz und gar Außerordentliches geschehen sein.«
»Allgemeine Phrasen helfen uns nicht weiter«, unterbrach Loj die Freundin. »Etwas Außerordentliches ... so was darf es bei uns einfach nicht geben. Wir haben sieben Spione beim Clan des Wassers. Ich möchte wissen, warum sie nichts unternommen haben. Fia schläft mit Roman, und der ist doch wenn nicht Torns rechte, so doch wohl zumindest seine linke Hand. Und warum, frage ich mich, hat sie nicht ein einziges Wort verlauten lassen?«
»Es wird doch kein Unglück geschehen sein?«, bemerkte die vorsichtige Lola.
»Ein Unglück? Mit allen sieben gleichzeitig?«
»Warum nicht? Wir sind in letzter Zeit zu selbstsicher gewesen. Größere Misserfolge gehören schon lange der Vergangenheit an. Wir können es sogar - oho! - mit den vier Elementen aufnehmen. Aber was ist, wenn Torn die ganze Zeit Bescheid wusste und sich insgeheim ins Fäustchen lachte? Und als die Zeit kam, zu handeln, hat er mit allen, die für uns arbeiteten, kurzen Prozess gemacht. Wir sollten ihn nicht unterschätzen.« Lola redete sich in Rage.
Iwer versank eine Weile in Gedanken.
»Also machen wir es so: Acht Mann gehen zu Torn, ebenso viele zu Ritor; und jeweils vier zu den beiden anderen Elementen. Und wir warten vorerst ab.«
»Vielleicht sollte ich auch ... ein wenig herumstreunen?«, schnurrte Ota. »Alle unsere Spione haben einen grundsätzlichen Nachteil, sie verfügen nicht über die strategische Information.
Loj freute sich einmal mehr darüber, dass ihr Ota rechtzeitig aufgefallen war und sie die junge Frau an sich gebunden hatte.
»Nein, meine Liebe«, antwortete sie süßlich. »Nein. Herumstreunen werde ich schon selbst müssen.«
»Warum das?«
»Aus dem einen Grund, weil nur ich ...«, Loj schenkte der Freundin und Konkurrentin ein bezauberndes Lächeln, »über die ganze strategische Information verfüge.«
Sollte sich Ota doch den Kopf darüber zerbrechen, worin der Wissensvorsprung der großen Loj Iwer bestand.
9
Der Zug fuhr mal schnell, dann wieder verlangsamte er seine Fahrt, wenn die Gleise eine scharfe Kurve machten. Viktor saß auf dem Bett und döste vor sich hin. Den Kopf hatte er an den weichen Wandbezug gelehnt. Einmal hörte er ein seltsames Geräusch, er öffnete die Augen und sah, wie Jaroslaw sein Messer an einem kleinen Schleifstein wetzte. Der Junge errötete von Viktors Blick, versteckte den Stein und setzte sich unnatürlich aufrecht hin.
Ein Raufbold ...
Viktor schloss die Augen und kämpfte gegen die Versuchung, wieder Fragen zu stellen. Wahrscheinlich könnte der Junge ihm einiges erzählen.
Aber noch immer existierte in seinem Bewusstsein eine Sperre. Entweder war das die Angst oder der Widerwille gegen die möglichen Folgen seiner Wissbegier - gegen einen neuerlichen Anfall greller, verzehrender Visionen.
Was war er für einer? Genauer gesagt, wer war er? Woher kamen diese Halluzinationen? So etwas hatte er noch nie erlebt, das konnte doch nicht ...
Viktor bemerkte nicht, wie er wieder einnickte.
Und dann befand er sich am Ufer, bis zu den Knien im anthrazitfarbenen, fast schwarzen Wasser. Dumpf brauste die Brandung.
Wieder!
Wie ... o Gott, so war es doch heute Nacht schon gewesen! Viktor war sich sicher, dass er da geschlafen hatte. Und jetzt - nein.
Im Traum ist alles möglich. Leuchtend echte Farben und Geräusche.
Aber nie, fast nie kann man seinen eigenen Körper spüren.
Ganz sicher bemerkt man nicht, dass das Wasser nass ist, die Sonne auf den Rücken brennt, die Steine unter den Füßen mit einer glitschigen Schicht überzogen sind.
»Zum Teufel!«, war alles, was er sagen konnte.
Die anfallartigen Visionen hatten jedenfalls ganz bestimmt nichts gemein mit diesen Träumen. In den Visionen war er nur Zuschauer. Er sah alles, was vor sich ging, war sich seiner selbst aber nicht bewusst. Im Grunde genommen, wenn man ganz unvoreingenommen daranging, dann hatten diese aus dem Nichts kommenden Visionen sogar einige Ähnlichkeit mit den normalen Träumen auf der Anderen Seite.
Aber jetzt erinnerte er sich ganz deutlich, wer er war, wie er in die Mittelwelt geraten war. Erinnerte sich an Tel, den toten Grenzer und dessen Sohn Jaroslaw, der sich noch vor einer Minute an seinem Messer zu schaffen gemacht hatte.
Viktor schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und führte es zum Gesicht. Ganz normales Wasser. Durchsichtig. Woher kam diese dichte schwarze Farbe, wie Füllertinte?
Eine Welle schwappte ihm bis zum Gürtel und vereitelte weitere Experimente. Viktor watete eilig zum nächstgelegenen
»Was hat das jetzt wieder zu bedeuten, Brüderchen?«, flüsterte Viktor vor sich hin. Dann rief er: »He, Hausherr! Mir hat’s bei dir gefallen, komm und nimm deinen Gast in Empfang!«
Im Durchgang, der die Tür ersetzte, erschien niemand. Auch das Feuer, das beim letzten Mal in der Dunkelheit geleuchtet hatte, war verschwunden. Viktor sprang ans Ufer, hob die Füße hoch in die Luft und versuchte, das Wasser aus den Schuhen zu schütteln. Es gelang ihm nicht, und er war gezwungen, sich auf die glattgeschliffenen Kiesel zu setzen und die Schuhe auszuziehen.
Nein, hier war nichts richtig. Zu real für einen Traum. Oder konnte man im Traum mit der Hand nassen Sand schöpfen und jedes einzelne Sandkörnchen erkennen? Konnte man jeden einzelnen Kiesel unter den Füßen spüren? Konnte man in der Ferne jede Bewegung der violetten Zweige erkennen, wenn man in die durchsichtige Luft blickte?
Viktor verspürte Angst, vorerst war sie noch unsicher und schüchtern. Wie ein kalter Klumpen auf seinem Herzen. Aber befand er sich nicht in einer Welt, die nach anderen Regeln funktionierte? War es nicht möglich, dass die Träume hier materiell waren?
Nein! Dieser Idee durfte er sich nicht verschreiben. Schon allein deswegen, weil er nach seinem ersten Traum dieser Art weder Blutergüsse noch Blutspuren an seinem Körper gefunden hatte. Und der lächerliche Kampf mit dem unfreundlichen Dickwanst hätte solche zurücklassen müssen.
Es gibt Träume, Töchterchen, einfach nur Träume. Er würde es mit den guten alten Freud-Witzen halten und versuchen, die Rätsel, die ihm sein Unterbewusstsein aufgegeben hatte, zu lösen.
Viktor zog die nassen Socken über und schlüpfte widerwillig in seine Schuhe; er wäre lieber barfuß gegangen, aber er wollte sich die Fußsohlen nicht am Riedgras aufschneiden.
Durch das hohe Gras ging er in Richtung des Laboratoriums. Plötzlich hielt er überrascht inne.
Von einer anderen Stelle des Ufers aus verlief bereits ein kleiner Pfad zu dem Gebäude hin. Das Riedgras war niedergedrückt und geknickt. Dort war er beim ersten Mal entlanggegangen.
Es war nicht Traum und auch nicht Wirklichkeit. Er hinterließ Spuren in dieser Welt - aber die Welt hinterließ keine Spuren an ihm. Unwillkürlich beschleunigte Viktor seinen Gang, wechselte auf den bereits vorhandenen Pfad und begann dann zu laufen. Von irgendwoher kam ihm der Gedanke, dass die ihm zur Verfügung stehende Frist in dieser Welt nicht besonders lang war. Und er konnte, ja, er musste hier etwas verstehen.
»Hausherr!« Viktor blieb am Eingang stehen und versuchte ein weiteres Mal, den kleinwüchsigen, dicken Alchimisten herauszurufen.
Stille. Aus der Ferne war das Rauschen der Wellen zu hören, mehr nicht.
»Na dann ... nichts für ungut.« Viktor trat ein. Wieder gewöhnten sich seine Augen augenblicklich an das Halbdunkel.
Das umgestürzte Regal lag noch immer auf dem Boden. Auf den Regalbrettern, die noch an der Wand hingen, befanden sich längst nicht mehr so viele merkwürdige Gegenstände