Der Pulli ließ sich leicht hochziehen, das war gut, aber auch seltsam. Gut, weil es bedeutete, dass das Blut frisch war und die Kleidung noch nicht an der Wunde klebte - also musste auch die Verletzung frisch sein. Seltsam, denn eine frische Wunde müsste eigentlich noch weiter bluten.
»Wie sieht es aus?«, fragte das Mädchen. Ganz ruhig, ohne jenen melodramatischen Beiklang, wie man ihn oft bei erwachsenen Frauen hört, die sich in den Finger geschnitten haben.
»Ganz gut«, antwortete Viktor, erstaunlicherweise im gleichen gelassenen Tonfall.
Er war auf alles Mögliche gefasst. Eine klaffende Wunde, die von einem abgebrochenen Flaschenhals herrührte, oder sogar darauf, dass gar keine Kratzer auf der Haut zu sehen waren, denn womöglich tat die Kleine nur ihren Job und diente einer Bande minderjähriger Gauner als Türöffner.
Und er hatte noch immer nicht die Tür geschlossen!
Aber es gab eine Wunde. Ein dünner, fast chirurgisch anmutender Schnitt. Der nicht mehr blutete.
»Sie haben mich nur leicht erwischt«, sagte das Mädchen, als ob es seine Gedanken lesen könnte. »Beim Übergang. Es hat nicht wehgetan, aber das Blut lief in Strömen ...«
»Beim Übergang - die Unterführung also, alles klar ...«
Viktor blickte wie gebannt auf die Wunde. Das Mädchen hatte Glück gehabt. Offensichtlich hatten sie mit einer Rasierklinge zugeschlagen. Aber der Schnitt war nicht tief und die Haut nur oberflächlich verletzt. Das Mädchen schien eine gute Blutgerinnung zu haben. Und sie hatte nicht die Fassung verloren. Viktor mochte es überhaupt nicht, nachts durch die Unterführung zu gehen - und er war immerhin ein erwachsener und ziemlich kräftiger Mann. Ständig war die Beleuchtung kaputt, es stank ekelhaft, und in den finsteren Ecken raschelten die Obdachlosen, die sich für die Nacht einrichteten. Da war sie also überfallen worden. Schweine. Aber diese Kleine war ein tapferes Kerlchen. Hatte sich losgerissen und war in den nächsten Hauseingang gelaufen, und erst dort war sie zusammengeklappt, aber zum Glück nicht wegen Blutverlusts, wie er zuerst gedacht hatte.
»Alles wird wieder gut«, sagte er. »Ganz bestimmt. Es ist nur eine Schnittwunde, die nicht mal genäht werden muss. Ich desinfiziere sie nur.«
»Gut, Viktor.«
Sie blickte ihm prüfend und ernst in die Augen. Nicht wie ein Kind.
Und sie kannte seinen Namen.
»Woher kennst du mich?«, fragte Viktor scharf.
Das Mädchen schwieg.
Es sah ganz so aus, als würde diese Nacht keine einfachen Antworten für ihn bereithalten.
Viktor ging in den Flur. Eilig schloss er die Eingangstür ab. Er war etwas verwirrt, dennoch nahm er den Schlüssel für das zweite Schloss vom Nagel an der Wand und schloss - was er sonst nie tat - auch dieses ab.
Das hieß es also, sich zu verbarrikadieren! Eine klapprige Tür aus Sperrholz und zwei dürftige Standardschlösser. Mein Haus ist meine Festung ...
Nachtschwarz zeigen sich die Wände
und die Kuppeln perlmuttweiß,
hat die Trauer hier ein Ende,
unsrer Träume Festung sei’s.
Glatt-blau plätschert eine Welle,
Sonnenhonig strömt herab,
aus dem Wolkenland zur Stelle
Kinder, die zum Flug begabt.
Was ist wirklich, was ein Traum,
denk nicht nach, stell keine Fragen.
Ein Gedanke in dir wohnt,
deine Antwort gibt dir Recht.
Der beherrscht die Welt des Tages,
jener ganz allein die Nacht,
aber vom geheimen Feuer
einer nur den Schlüssel hat.
Viktor riss sich von der Wand los. Seine Beine zitterten leicht, aber fürs Erste schien der Unsinn aus seinem Kopf verschwunden. Als spulte er ein automatisches Programm ab, öffnete er die Hausapotheke, die im Flur hing, und entnahm ihr eine Plastiktasche mit Mullbinden und Pflaster.
Wenn das so weiterging, müsste er bald selbst in Behandlung ...
Das Mädchen lag immer noch auf dem Sofa und blickte ihm entgegen. Viktor versuchte sich auf die einfachen Handgriffe zu konzentrieren, er riss ein Stück Mull ab, befeuchtete es mit Wasserstoffperoxid und tupfte vorsichtig über die Schnittwunde. Das Wasserstoffperoxid zischte auf der Wunde und fraß sich in die angetrocknete Blutkruste. Das Mädchen runzelte die Stirn.
»Also, woher kennst du meinen Namen?«, wiederholte Viktor seine Frage, während er eine Packung mit Leukoplast aufriss. Es war immer gut, den Kranken während der Behandlung mit irgendwelchem Gerede abzulenken. Davon abgesehen wollte er es wirklich wissen.
»Ich kenne ihn eben«, ließ sie sich zu einer Antwort herab. Nur leider, ohne irgendetwas zu erklären.
Um die Wunde abzudecken, benötigte er nur drei Stück Pflaster. Nein, sie hatte wirklich Glück gehabt. Eine rein oberflächliche Schnittwunde, abgerutscht vermutlich. Aber woher kam das viele Blut?
»Sie haben mit einer Rasierklinge zugestochen, oder?«, fragte er.
»Nein, mit einem Säbel.«
Ihre Augen blickten ernst. Aber Viktor hatte gelernt, Augen nicht zu vertrauen.
»Ich weiß nicht, wie du heißt«, fing er an, Ärger stieg in ihm auf. »Ich weiß nicht einmal, wo du dich so prächtig aufgeschürft hast ...«
»Tel.«
»Was?«
»So heiße ich - Tel.«
Plötzlich begriff Viktor.
Solche Mädchen und Jungen hatte er schon im Fernsehen gesehen.
Schlampig gekleidet waren sie, trugen die Haare mit Bändern zusammengefasst, und auf dem Rücken hatten sie Holz- oder Metallschwerter. Sie gaben sich genau solche klangvollen Namen und trafen sich irgendwo im Wald, um Rollenspiele zu veranstalten.
Die hübsche Journalistin hatte überschwänglich erklärt, dass dies eine neue Form des Zeitvertreibs unter Jugendlichen sei, bei der sie alternative Formen des Verhaltens erlernen und die Geschichte vergangener Zivilisationen erfahren könnten. Beim Anblick dieser Jugendlichen war Viktor ein wenig beklommen zumute gewesen. Erstens glaubte er an diese vergangenen Zivilisationen der Gnome und Elfen ebenso wenig wie an das Reich des unsterblichen Koschtschej oder die Hexe Babajaga.[1] Zweitens hatte er das Gefühl, dass die Augen dieser jungen Leute, die ihre Jugend dem Studium der Elfensprache widmeten, allzu fanatisch leuchteten.
Wahrscheinlich spielte auch das Mädchen hier, diese Tel, solche Spiele. Streifte in der Gesellschaft ihrer Elfenkameradinnen umher, malte sich die Nägel mit goldfarbenem Lack an, übte Fechten mit rostigen Eisenstangen. Na, und jetzt hatte sie ein kleines Souvenir fürs Leben abbekommen.
Wunderbare Erklärung. Was Besseres hätte er sich nicht ausdenken können. Und zu dieser späten Stunde hatte er nicht die Absicht, einfache, verständliche Erklärungen in Zweifel zu ziehen.
Aber woher kannte sie seinen Namen?
Vielleicht hatte sie ihn im Krankenhaus gesehen. Gelegentlich hatte er in der Kinderabteilung Bereitschaftsdienst. Die Göre hatte sich sein Gesicht und den Namen gemerkt, und als sie nun zufällig in seiner Wohnung gelandet war,
»Tel«, sagte Viktor, so sanft er nur konnte. »Ich muss jetzt deine Eltern anrufen ... hm ...«
Er berührte das Telefon, das inzwischen nicht mehr rauchte, aber ...
»Tel, ich gehe eben runter, da ist ein öffentlicher Fernsprecher«, sagte Viktor.
Das Mädchen lächelte.
»Du musst nirgendwo anrufen.«
»Haben deine Eltern kein Telefon?«, folgerte Viktor.
Es war schon nach Mitternacht. Eine schöne Bescherung!
»Steh auf«, sagte er schließlich. »Dir ist nichts Schlimmes passiert. Ich bringe dich mit dem Taxi nach Hause.«
Tel schien nur auf seine Erlaubnis gewartet zu haben. Langsam setzte sie sich auf, zog den Pulli zurecht und faltete die Hände auf den Knien. Ein ordentliches, gut erzogenes Mädchen. Kaum zu glauben, dass sie solche Flausen im Kopf hatte.
1
BABAJAGA UND KOSCHTSCHEJ Babajaga ist die böse Hexe im russischen Märchen; sie hat knochige Beine, wohnt in einem runden Haus, das auf zwei Hühnerbeinen steht, und verfügt über ein immenses Wissen. Koschtschej ist eine slawische Mythengestalt, die ebenfalls im russischen Märchen verbreitet ist. Koschtschej ist ein hässlicher, böser alter Mann, der unsterblich ist. Er kann nur getötet werden, wenn er an seiner einzigen verwundbaren Stelle getroffen wird, die sich außerhalb seines Körpers befindet und gut bewacht ist.