»Und was wartet dort auf mich - noch ein Kampf?«, fragte Viktor verzagt. Nach den Zusammenstößen auf dem Bahnhof, auf der Brücke, im Zug und im Schloss beim Vasallen der Erde widerte Viktor allein der Gedanke daran an.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Tel. »Ich bin noch nie dort gewesen. Ich kenne nur den Weg. Ich kann die Tür öffnen. Alles Weitere musst du alleine herausfinden.«
»Und was?«
»Was dann? Du wirst ... vollendet.«
»Nein«, sagte Viktor hartnäckig. »Wer werde ich sein?«
»Der Drachentöter«, antwortete Tel mit monotoner Stimme, als betete sie eine auswendig gelernte Lektion herunter, »ist die Quintessenz dessen, was man unter dem Wort Vernichtung versteht. Es bedeutet die Fähigkeit, alles, was einen umgibt, zum eigenen Nutzen zu verwandeln. Unabhängig
Viktor schloss die Augen. Ja, genau so war es am Bahnhof von Chorsk gewesen.
Und um ein Haar auch im Schloss, nur mit viel größerer Wucht.
»Der Drachentöter ist fähig zu hassen. Er hasst stärker als jedes andere Wesen der Mittelwelt. Sein Hass ist seine Waffe. Er verschmilzt ganz und gar mit diesem Hass, und das, Viktor, bedeutet, dass er jeder Magie überlegen ist. Darum vermochte Ritor den Sieg davonzutragen. Niemals, nicht mal im schlimmsten unserer inneren Kriege, haben wir einander so stark gehasst, wie der Drachentöter hasst. Dem Wesen nach ist er die Verkörperung des Hasses.«
»Steht es so in den Büchern geschrieben, Tel?«, fragte Loj mit leiser Stimme. »Oder spürst du das von dir aus?«
Das Mädchen strich sich mit der Hand über die Stirn. Biss sich auf die Lippe.
»Es gibt keine Bücher, Loj Iwer. Kein Mensch weiß ganz genau, wie man zum Drachentöter wird. Ritor war der letzte. Nur er weiß es. Vermutlich hängt es vom Wunsch ab ... dem innersten, tief verborgenen Wunsch des Menschen. Ritor selbst hat niemanden durch die Geflügelten Herrscher verloren, aber er träumte immer von der Freiheit der Clans, dieser Ritor.« Tel lachte hart. »Und jetzt ... hat er sie endlich.«
»Und was willst du, Tel? Du hast mich doch hergeführt.«
»Nein! Viktor, nein!« Tel verschränkte die Arme. »Du bist von selbst gekommen. Die Andere Seite hat dich verstoßen. Du bist dort ein Fremder, sonst hättest du nicht einmal die erste Weihe überlebt. Sonst hätten dich schon die Räu... die Wächter der Grauen Grenze getötet. Oder Gotors Wassermonster.
»Und wer hat uns am Anfang überfallen? Am Übergang?«
»Torns Leute.«
»Warum hätten sie das tun sollen, wenn ich der Drachentöter bin?«
»Sie konnten doch nicht sicher sein. Torn hat den Drachentöter gerufen ... aber er hat keinen Augenblick damit gerechnet, dass ich an seiner Seite auftauchen würde. Und seine Wächter rissen sich von der Kette los. Erst jetzt ist Torn bereit, dir jedes Stäubchen von der Jacke zu pusten.«
Loj konnte nicht verhindern, dass ihre Brauen sich wieder skeptisch hoben, aber zum Glück bemerkte es keiner.
»Na gut.« Viktor gab auf. »Die Runde geht an dich, Tel.«
»Warum?«
Viktor lachte unbehaglich. Sie hatte Recht, worin bestand denn eigentlich ihr Sieg? Dieses Mädchen hatte wirklich immer das letzte Wort.
»Wir sollten uns jetzt ausruhen, der letzte Tagesmarsch führt über den Pass, ans Ufer, nach Oros. Und dann zur Insel.«
Loj spielte nervös mit den Fingern. Es schien, als ob das Gespräch sie nicht mehr länger beschäftigte. Sie dachte über etwas anderes nach. Die Frau wusste offenbar mehr als das, was soeben enthüllt worden war, aber sie hatte es nicht eilig, damit herauszurücken.
Auch gut, dachte Viktor. Sollte sie schweigen. So war es ohnehin besser. Dann eben die Dracheninsel. Es war nicht wichtig, ob er krank war oder nicht, ob er am Ende hier starb oder in einem Krankenhauszimmer aufwachte, wo ein Sanitäter mit einer Spritze vor ihm stand, so wie Kolja, der Kapitän, es immer befürchtet hatte. Solange er hier war,
»Sag mal, Tel, gibt es viele von euch? Ich meine, seid ihr viele im Geheimen Clan?« Tel blickte ihn schräg von der Seite an und antwortete nicht.
»Das weiß keiner, Viktor«, sagte Iwer mit nervösem Kichern. »Der Geheime Clan galt als ausgestorben. Aber dann erwies es sich, dass dem nicht so ist. Mir gefällt es überhaupt nicht, dass dein Mädchen so eine Geheimnistuerei veranstaltet! Und dir?« Sie blickte ihn mit unverhüllter Aufforderung an.
»Wenn Tel schweigt, dann muss das so sein«, beendete Viktor die Unterhaltung mit scharfem Ton. Was erlaubte sich diese Katze? Warum mischte sie sich ein? Wut stieg schäumend in ihm auf und brachte das Fass beinahe zum Überlaufen, ihr Widerschein trat in seine Augen - und die Frau hielt augenblicklich inne, warf sogar zum Schutz gegen etwas Unsichtbares die Hände nach oben.
»Es tut mir leid ... Viktor«, sagte Loj versöhnlich. »Ich würde nur gerne wissen, wohin ihr als Nächstes geht.«
»Eine seltsame Frage«, prustete Tel. »Ich habe es dir doch schon gesagt, zum Clan des Feuers!«
»Und wenn sie Viktor den einzigen Weg nach Oros abschneiden? Was werdet ihr dann tun?«, erkundigte sich Loj mit schmeichlerischer Stimme. »Ohne mich? Nun? Werdet ihr kämpfen? Ihr könnt sicher sein, meine Lieben, dass Ritor diesmal eine ganze Armee gegen euch aufbieten wird. Unter anderem auch ein ordentliches Aufgebot vom Clan
»Wir brauchen dich nicht, Loj Iwer!«, stieß Tel eilig hervor. »Das heißt ... wir sind dir natürlich sehr dankbar für deine Hilfe, aber ...«
Was nun folgte, wäre einer Shakespeare’schen Tragödie würdig gewesen. Loj weinte. Loj klagte bitter über die Undankbarkeit der Menschen. Loj verfluchte sich selbst für ihre Naivität. Loj schwor, dass sie nie mehr, für kein Geld der Welt irgendjemandem helfen würde.
Tel beobachtete das alles mit kalter, teilnahmsloser Neugier. Viktor hielt sich raus. Nach seinen Erfahrungen beim Clan der Erde war er endgültig davon überzeugt, dass es möglich war, die Kraft zu lenken. Wahrscheinlich musste er nicht einmal einen direkten Zusammenstoß mit Ritor fürchten. Zumindest wäre ein solcher Kampf für ihn nicht aussichtslos. Und er ... ja, insgeheim wünschte er sich sogar ein Duell. Die Versuchung war groß.
Aber woher kannte er diesen Ritor? Wieso erinnerte er sich sogar in allen Einzelheiten an sein Gesicht? Vielleicht war ein Duell von Angesicht zu Angesicht ja genau das, was nötig war; ein Kampf von Mann zu Mann, damit alles entschieden wäre - schnell und klar ...
Endlich beruhigte sich Loj.
»Das heißt, ihr wollt mich hier zurücklassen? Hier? Vor uns warten Ritor und seine Gefährten vom Feuer, und hinter
»Denk dir was aus«, sagte Tel gleichgültig. »Wenn es nötig ist, schläfst du eben mit dem einen oder anderen, und schon ist alles in bester Ordnung. Tu nicht so, als ob es das erste Mal wäre.«
»Tel«, sagte Viktor scharf. »Loj kommt mit uns. Sie hat Recht.«
Das Mädchen zog eine Grimasse, aber dann sah es Viktor an, schwieg und zuckte mit den Schultern.
Der Weg stieg immer steiler bergan. Der Clan des Feuers hütete eifersüchtig seine Geheimnisse ... oder seine Magier liebten schlicht und einfach die Abgeschiedenheit. Sie hatten sorgsam alle anderen Wege, die über die Alten Berge zu ihrer geschützten Bucht mit dem Leuchtturm führten, zerstört. Die einzige Trasse verlief durch einen überschatteten Pass, der an beiden Seiten von beinahe senkrecht aufragenden Felswänden begrenzt wurde. Krumme junge Kiefern drückten sich in die steilen Hänge und wurzelten an den steinernen Vorsprüngen - es war eine Gegend, die stark an die Krim erinnerte. Die Luft war ungeachtet der herbstlichen Jahreszeit trocken und warm. Bald begannen die Wanderer zu schwitzen.
»Hinauf in die Berge benötigen wir einen Tag«, sagte Tel und keuchte kaum merklich. »Und für den Abstieg noch einen. Wenn alles gutgeht, holen sie uns nicht ein. Ritor
Viktor zuckte nur mit den Schultern. Manchmal machte ihn Tels schulmeisterlicher Ton richtig wütend. Dann hatte er größte Lust, Loj zuzublinzeln und sie ... in die Schulter zu beißen und ...