»Er verfügt über die Eigenschaften, die für eine Führerschaft offenbar notwendig sind. Er denkt schnell, ist intelligent und schöpferisch. Aber die meisten von uns verfügen mehr oder weniger über diese Merkmale. Warum folgen die anderen Tanis? Sturm ist von adeliger Herkunft, Angehöriger eines Ordens, dessen Ursprünge bis in uralte Zeiten zurückreichen. Warum gehorcht er einem Bastard? Und Flußwind? Er mißtraut allen, die nicht menschlich sind und denen, die es sind, nur halb. Dennoch würden er und Goldmond Tanis bis in den Abgrund und zurück folgen. Warum?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, begann Laurana, »und ich glaube...«
Aber Raistlin ignorierte sie und beantwortete seine Frage selbst. »Tanis horcht auf seine Gefühle. Er unterdrückt sie nicht wie der Ritter oder versteckt sie nicht wie der Barbar. Tanis weiß, daß ein Führer manchmal mit dem Herzen denken muß und nicht mit dem Kopf.« Raistlin warf ihr einen kurzen Blick zu. »Denk daran.«
Laurana war einen Moment verwirrt, dann spürte sie eine Spur von Überheblichkeit bei dem Magier, die sie wütend machte, und sie sagte hochmütig: »Mir ist aufgefallen, daß du in der Aufzählung nicht vorkamst. Wenn du so intelligent und mächtig bist, wie du behauptest, warum folgst du dann Tanis?«
Raistlins Stundenglasaugen verdunkelten sich, und er kniff sie zu. Caramon brachte ihm einen Becher und goß vorsichtig Wasser hinein. Der Krieger warf Laurana einen Blick zu, er wirkte wie immer verlegen und unruhig, wenn sein Bruder sich so benahm.
Raistlin schien es nicht zu bemerken. Er zog einen Beutel aus seinem Gepäck und streute einige grüne Blätter in das heiße Wasser. Beißender Geruch erfüllte den Raum. »Ich folge ihm nicht.« Der junge Magier blickte Laurana an. »Zur Zeit reisen Tanis und ich zufälligerweise in dieselbe Richtung.«
»Die Ritter von Solamnia sind in unserer Stadt nicht willkommen«, sagte der Lord streng. Sein düsterer Blick wanderte über den Rest der Gruppe. »Noch Elfen, Kender und Zwerge und alle, die mit ihnen reisen. Wie ich verstanden habe, gehört auch ein Magier zu euch, einer mit roten Gewändern. Ihr tragt Rüstungen. Eure Waffen sind blutverklebt und schnell und sicher zur Hand. Offensichtlich seid ihr erfahrene Krieger.«
»Zweifellos Söldner, mein Herr«, bemerkte der Wachtmeister.
»Wir sind keine Söldner«, entgegnete Sturm stolz. »Wir kommen von den nördlichen Ebenen Abanasinias. Wir haben achthundert Männer, Frauen und Kinder aus der Gewalt des Drachenfürsten Verminaard in Pax Tharkas befreit. Wir flohen vor dem Zorn der Drachenarmeen und ließen die Leute in einem Tal im Gebirge zurück und reisten weiter südlich in der Hoffnung, Schiffe in der legendären Stadt Tarsis zu finden. Wir wußten nicht, daß sie inzwischen landumschlossen ist, sonst wären wir nicht gekommen.«
Der Lord runzelte die Stirn. »Du sagst, ihr kommt aus dem Norden? Das ist unmöglich. Niemand ist je ungeschoren durch das Bergkönigreich der Zwerge in Thorbadin gekommen.«
»Wenn du irgend etwas über die Ritter von Solamnia weißt, dann müßtest du auch wissen, daß wir eher sterben würden, als zu lügen – selbst unseren Feinden gegenüber«, sagte Sturm.
»Wir haben das Zwergenreich betreten und konnten sicher passieren, da wir als Gegenleistung den verlorenen Streitkolben von Kharas gefunden und übergeben haben.«
Der Lord bewegte sich unruhig und warf dem hinter ihm sitzenden Drakonier einen Blick zu. »Ich weiß einiges über die Ritter«, sagte er widerstrebend. »Und darum muß ich deine Geschichte glauben, obwohl sie eher wie ein Märchen klingt als...«
Plötzlich wurden die Türen aufgestoßen, und zwei Wachen traten ein und zogen einen Gefangenen hinter sich her. Sie schoben die Gefährten beiseite, als sie ihren Gefangenen auf den Boden warfen. Es war eine Frau. Sie war fast völlig verschleiert und trug einen langen Rock und einen dicken Umhang. Einen Moment blieb sie auf dem Boden liegen, als ob sie zu müde oder zu geschwächt wäre, sich zu erheben. Dann schien sie mit äußerster Willensanstrengung zu versuchen, hochzukommen. Niemand wollte ihr offenbar helfen. Der Lord starrte sie mit grimmigem und drohendem Gesicht an. Der Drakonier war aufgestanden und sah interessiert zu ihr hin. Dann war Sturm an ihrer Seite.
Der Ritter hatte voller Entsetzen zugesehen, erschreckt über diese gefühllose Behandlung einer Frau. Er blickte zu Tanis, sah den immer vorsichtigen Halb-Elf den Kopf schütteln, aber der Anblick der Frau, die sich mühte, aufzustehen, war zuviel für den Ritter. Er trat einen Schritt nach vorn. Vor ihm tauchte ein Speer auf.
»Töte mich, wenn du willst«, sagte der Ritter zu der Wache, »trotzdem werde ich dieser Dame helfen.«
Die Wache blinzelte und trat zurück, seine Augen wandten sich dem Lord zu. Dieser schüttelte leicht den Kopf. Tanis hielt den Atem an, als er ihn beobachtete. Dann schien es ihm, als würde der Lord lächeln, der gleich darauf schnell seine Hand auf den Mund legte.
»Meine Dame, erlaubt mir, Euch zu helfen«, sagte Sturm mit seiner altmodischen Höflichkeit. Seine starken Hände hoben sie sanft auf die Füße.
»Du hättst mich lieber liegenlassen sollen, Ritter«, sagte die Frau, ihre Worte waren hinter ihrem Schleier kaum zu hören.
Aber bei ihrer Stimme stöhnten Tanis und Gilthanas auf und blickten sich an. »Du weißt nicht, was du tust«, fuhr sie fort.
»Du riskierst dein Leben...«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Sturm und verbeugte sich. Dann stellte er sich beschützend neben sie, seine Augen auf die Wachen gerichtet.
»Sie ist eine Silvanesti-Elfe!« flüsterte Gilthanas Tanis zu.
»Weiß Sturm das?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Tanis. »Wie sollte er? Ich selbst habe ja kaum ihren Akzent erkannt.«
»Was macht sie wohl hier? Silvanesti ist weit entfernt...«
»Ich...«, begann Tanis, aber einer der Wachen stieß ihn an. Er verstummte, als der Lord zu sprechen anfing.
»Lady Alhana«, sagte er mit kalter Stimme, »Ihr wurdet aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Beim letzten Mal war ich gnädig, weil Ihr im Auftrag Eures Volkes hier wart, und das Protokoll wird immer noch in Tarsis geschätzt. Ich sagte Euch aber damals schon, daß Ihr keine Hilfe von uns erwarten könnt, und gab Euch vierundzwanzig Stunden Zeit, die Stadt zu verlassen. Jetzt finde ich Euch hier wieder.« Er sah zu den Wachen. »Wie lautet die Anklage?«
»Der Versuch, Söldner zu kaufen, mein Herr«, erwiderte der Wachtmeister. »Man hat sie in einem Wirtshaus an der alten Küste aufgegriffen, Herr.« Der Wachtmeister warf Sturm einen vernichtenden Blick zu. »Gut, daß sie nicht mit diesem Gesindel zusammengetroffen ist. In Tarsis würde sonst niemand einer Elfe helfen.«
»Alhana«, murmelte Tanis. Er rückte vorsichtig zu Gilthanas.
»Warum ist mir dieser Name so vertraut?«
»Bist du von deinem Volk so lange weggewesen, daß du dich nicht einmal mehr an diesen Namen erinnerst?« fragte der Elf leise in der Elfensprache. »Unter unseren Silvanesti-Kusinen gab es nur eine Alhana. Alhana Sternenwind, Tochter des Sternensprechers, Prinzessin, Herrscherin nach dem Tode ihres Vaters, da sie keine Brüder hat.«
»Alhana«, sagte Tanis, die Erinnerungen kamen zurück. Das Elfenvolk war vor Jahrhunderten gespalten worden, als Kith-Kanan viele Elfen nach den bitteren Sippenmord-Kriegen in das Land Qualinesti geführt hatte. Aber die Elfenführer blieben immer noch auf seltsame Weise in Verbindung mit den Elfenlords, die angeblich Botschaften im Wind lesen und die Sprache des Silbermondes verstehen können. Jetzt erinnerte er sich an Alhana. Von allen Elfenmädchen sollte sie die schönste gewesen sein und so distanziert wie der Silbermond, der bei ihrer Geburt geleuchtet hatte.
Der Drakonier lehnte sich zurück, um etwas mit dem Lord zu besprechen. Tanis sah, wie sich das Gesicht des Mannes verdüsterte, und es schien, als ob er nicht einverstanden wäre. Dann biß er sich auf die Lippe und nickte seufzend. Der Drakonier verschwand wieder in den Schatten.