»Ihr steht unter Arrest, Lady Alhana«, sagte der Lord mit schwerer Stimme. Sturm trat einen Schritt näher zu der Frau, als auch die Wachen näher kamen. Der Ritter warf seinen Kopf zurück und warf ihnen einen warnenden Blick zu. Er wirkte so überzeugend und edel, selbst unbewaffnet, daß die Wachen zögerten. Doch sie hatten ihren Befehl.
»Du solltest etwas unternehmen«, knurrte Flint. »Ich bin sehr für Ritterlichkeit, aber alles zu seiner Zeit und an seinem Ort!«
»Hast du vielleicht einen Vorschlag?« knurrte Tanis.
Flint antwortete nicht. Sie konnten überhaupt nichts machen, und das wußten sie. Sturm würde sterben, bevor eine Wache auch nur eine Hand an die Frau gelegt hätte, obwohl er überhaupt nicht wußte, für wen er da eigentlich sein Leben gab. Es spielte keine Rolle. Tanis fühlte sich zwischen Niedergeschlagenheit und Bewunderung für seinen Freund hin- und hergerissen und maß die Entfernung zwischen sich und der am nächsten stehenden Wache. Wenigstens einen würde er außer Gefecht setzen können. Er sah Gilthanas die Augen schließen, seine Lippen bewegten sich. Der Elf war ein Magier, obwohl er die Magie nie ernsthaft betrieben hatte. Als er in Tanis' Gesicht sah, seufzte Flint tief und wandte sich der anderen Wache zu, den behelmten Kopf gesenkt.
Dann sprach plötzlich der Lord, seine Stimme klang krächzend. »Halte ein, Ritter!« sagte er mit der Autorität, die seine Familie seit langen Generationen genoß. Sturm entspannte sich, und Tanis seufzte erleichtert auf. »In diesem Saal soll kein Blut vergossen werden. Diese Dame hat ein Gesetz dieses Landes gebrochen, Gesetze, die du, Ritter, in früheren Zeiten geschworen hast, einzuhalten. Aber ich meine auch, es besteht kein Grund, sie respektlos zu behandeln. Wachen, ihr werdet die Dame ins Gefängnis bringen, aber mit der gleichen Höflichkeit, die ihr mir erweist. Und du, Ritter, wirst sie begleiten, da du an ihrem Wohlbefinden so interessiert bist.«
Tanis stieß Gilthanas an, der zusammenschrak, als er aus seiner Trance kam. »Dieser Lord kommt wahrhaftig, wie Sturm schon sagte, aus einer gütigen und ehrenwerten Familie«, flüsterte Tanis.
»Ich verstehe nicht, warum du so vergnügt bist, Halb-Elf«, murrte Flint, der die Worte gehört hatte. »Zuerst bringt uns der Kender dazu, daß wir wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt werden, dann verschwindet er. Und jetzt bringt uns der Ritter ins Gefängnis. Beim nächsten Mal erinnere mich bitte, daß ich mich an den Magier halte. Bei ihm weiß ich wenigstens, daß er verrückt ist!«
Als die Wachen ihre Gefangenen von der Bank wegtreiben wollten, schien Alhana etwas in den Falten ihres Rocks zu suchen.
»Ich bitte Euch um einen Gefallen, Ritter«, sagte sie zu Sturm. »Anscheinend habe ich etwas fallen gelassen. Eine Kleinigkeit, aber sehr wertvoll. Könntet Ihr nachsehen...«
Sturm kniete sich geschwind und fand sofort den Gegenstand auf dem Boden liegen, verborgen unter den weiten Falten ihres Kleides. Es war eine sternenförmige, mit Diamanten besetzte Nadel. Er hielt den Atem an. Eine Kleinigkeit! Ihr Wert mußte unschätzbar sein. Kein Wunder, daß sie es vor den Wachen verborgen halten wollte. Schnell schloß er seine Finger um das Schmuckstück, dann tat er so, als würde er weitersuchen. Immer noch kniend sah er schließlich zu der Frau auf.
Sturm hielt den Atem an, als die Frau die Kapuze ihres Umhangs wegschob und ihren Schleier vom Gesicht zog. Zum ersten Mal erblickten menschliche Augen das Gesicht von Alhana Sternenwind.
Muralasa, wie die Elfen sie nannten – Prinzessin der Nacht. Ihr Haar, schwarz und weich wie der Nachtwind, wurde von einem Netz, das noch feiner als Spinnenweben war, und mit kleinen Juwelen, die wie Sterne funkelten, zusammengehalten. Ihre Haut war so blaß wie der Silbermond, ihre Augen hatten das tiefe dunkle Purpur des Abendhimmels und ihr Mund die Farbe der Schatten des roten Mondes.
Der erste Gedanke des Ritters war, daß er Paladin dankte, bereits auf den Knien zu sein. Sein zweiter Gedanke war, daß der Tod ein erbärmlicher Preis dafür war, ihr zu dienen. Sein dritter Gedanke war, daß er irgend etwas sagen mußte, aber er schien die Worte aller ihm bekannten Sprachen vergessen zu haben.
»Vielen Dank für Eure Suche, edler Ritter«, sagte Alhana leise und sah aufmerksam in Sturms Augen. »Wie ich schon sagte, es war nur eine Kleinigkeit. Bitte erhebt Euch. Ich bin sehr müde, und da wir anscheinend zum selben Ort gebracht werden, wäre ich sehr dankbar, wenn Ihr mir helfen würdet.«
»Zu Eurer Verfügung«, sagte Sturm leidenschaftlich und erhob sich, dabei verstaute er schnell den Juwel in seinem Gürtel. Er hielt ihr seinen Arm hin, und Alhana legte ihre schmale weiße Hand hinein. Sein Arm zitterte bei ihrer Berührung. Dem Ritter war, als hätte sich eine Wolke über das Licht der Sterne gelegt, als sie wieder ihr Gesicht verschleierte. Sturm sah, wie sich Tanis hinter ihnen aufstellte, aber der Ritter war so hingerissen von dem wunderschönen Gesicht, das sich in seine Erinnerung gebrannt hatte, daß er den Halb-Elf ohne ein Anzeichen des Erkennens anstarrte.
Tanis hatte Alhanas Gesicht gesehen, und ihre Schönheit hatte auch ihn bewegt. Aber er hatte auch Sturms Gesicht gesehen. Er hatte die Schönheit der Frau in das Herz des Ritters eintreten sehen. Und das würde mehr Schaden bringen als ein vergifteter Pfeil eines Goblins. Denn er wußte, diese Liebe würde sich in Gift verwandeln. Die Silvanesti waren eine stolze und hochmütige Rasse. Da sie ihr Blut reinhalten und sogar ihre Lebensweise vor fremden Einflüssen bewahren wollten, lehnten sie sogar oberflächlichsten Kontakt mit Menschen ab. Das war auch der Grund für die Sippenmord-Kriege gewesen. Nein, dachte Tanis traurig, für Sturm konnte der Silbermond nicht unerreichbarer sein als diese Elfe. Der Halb-Elf seufzte. Das hatte zu allem noch gefehlt.
6
Die Ritter von Solamnia. Tolpans Augengläser des Wahren Blicks
Als die Wachen die Gefangenen aus der Halle der Gerechtigkeit führten, kamen sie an zwei Gestalten vorbei, die draußen im Schatten standen. Beide waren so vermummt, daß schwer auszumachen war, welcher Rasse sie angehörten. Kapuzen bedeckten ihre Köpfe, ihre Gesichter waren mit Tüchern verhüllt. Sie trugen lange Roben, und selbst ihre Hände waren bandagiert. Sie unterhielten sich leise.
»Sieh mal!« sagte einer von ihnen aufgeregt. »Da sind sie. Die Beschreibungen passen.«
»Nicht auf alle«, sagte der andere zweifelnd.
»Aber der Halb-Elf, der Zwerg, der Ritter! Ich sage dir, das sind sie. Und ich weiß, wo die anderen sind«, fügte die Gestalt selbstgefällig hinzu. »Ich habe eine der Wachen gefragt.«
Die andere größere Gestalt überlegte, während er die Gruppe beobachtete, die zur Straße geführt wurde. »Du hast recht. Wir sollten das sofort dem Drachenfürsten berichten.« Die Gestalt drehte sich um, hielt aber inne, als sie die andere zögern sah.
»Worauf wartest du?«
»Aber sollte nicht einer von uns ihnen folgen? Sieh dir doch nur diese erbärmlichen Wachen an. Du weißt genau, die Gefangenen werden versuchen zu entkommen.«
Der andere lachte unbehaglich. »Natürlich werden sie entkommen. Und wir wissen, wohin sie gehen werden – zu ihren Freunden.« Er blinzelte in die Nachmittagssonne. »Außerdem wird es in einigen Stunden sowieso keinen Unterschied mehr machen.« Die größere Gestalt machte sich auf den Weg, die kleinere folgte eilig.
Es schneite, als die Gefährten aus der Halle der Gerechtigkeit traten. Dieses Mal wußte es der Wachtmeister besser und führte seine Gefangenen nicht durch die Hauptstraßen den Stadt, sondern in eine dunkle und düstere Gasse, die neben der Halle der Gerechtigkeit verlief.
Tanis und Sturm tauschten gerade Blicke, Gilthanas und Flint machten sich zum Angriff bereit, als der Halb-Elf Schatten in der Gasse bemerkte, die sich bewegten. Drei vermummte Gestalten sprangen vor die Wachen, Klingen blitzten im hellen Sonnenlicht.