»Nun, was hast du herausgefunden?« fragte Tanis widerwillig.
»O Tanis, es ist so interessant!« sagte Tolpan, dankbar, daß das Verhör vorüber war. Er blätterte sorgfältig eine Seite um, die dabei sofort zwischen seinen kleinen Fingern zerfiel. Er schüttelte traurig den Kopf. »Das passiert fast jedes Mal. Aber hier kannst du es sehen...«, die anderen lehnten sich hinüber, um neben den Finger des Kenders zu sehen, »... Bilder von Drachen. Blaue Drachen, rote Drachen, schwarze Drachen, grüne Drachen. Ich wußte gar nicht, daß es so viele gibt. Nun, seht ihr?« Er blätterte die Seite um. »Nun, ihr könnt es jetzt nicht mehr sehen, aber es war eine riesige Glaskugel. Und im Buch heißt es: ›Wenn du eine dieser Glaskugeln besitzt, kannst du Kontrolle über die Drachen gewinnen, und sie gehorchen dir!‹«
»Glaskugel!« Flint rümpfte verächtlich die Nase. »Glaub ihm nicht, Tanis. Ich glaube, das einzige, was diese Gläser machen, ist, seine Geschichten zu vergrößern.«
»Ich sage aber die Wahrheit!« sagte Tolpan beleidigt. »Sie nennen sie die Kugeln der Drachen, und du kannst Raistlin danach fragen! Er muß es wissen, denn hier heißt es, daß sie von den großen Zauberern vor langer Zeit hergestellt worden sind.«
»Ich glaube dir«, sagte Tanis ernst, da er sah, daß Tolpan wirklich erzürnt war. »Aber ich befürchte, daß sie uns nichts mehr nützen werden. Wahrscheinlich sind sie alle bei der Umwälzung zerstört worden, und wir wissen nicht, wo wir sie suchen sollen...«
»Doch, das wissen wir«, sagte Tolpan aufgeregt. »Hier ist eine Liste, wo sie sein sollen. Seht...« Er hielt inne, hob den Kopf. »Psst«, machte er und horchte weiter. Die anderen verstummten. Einen Moment lang hörten sie nichts, aber dann vernahmen sie das, was das feinere Gehör des Kenders bereits ausgemacht hatte.
Tanis spürte seine Hände kalt werden; der trockene, bittere Geschmack der Furcht füllte seinen Mund. Jetzt konnte er es in der Ferne hören, den Klang von Hunderten von Hörnern – Hörner, die sie alle schon einmal gehört hatten. Die bellenden Bronzehörner, die die Drakonierarmeen ankündigten – und das Nahen der Drachen. Die Hörner des Todes.
7
»...nicht bestimmt, sich in dieser Welt wiederzusehen.«
Die Gefährten hatten gerade den Marktplatz erreicht, als die erste Drachenschar Tarsis heimsuchte.
Die Gruppe hatte sich von den Rittern getrennt. Es war kein angenehmer Abschied gewesen. Die Ritter hatten versucht, sie zu überzeugen, mit ihnen in die Berge zu entkommen. Als die Gefährten ablehnten, verlangte Derek, daß Tolpan sie begleiten sollte. Tanis war klar, daß Tolpan von den Rittern weglaufen würde, und war wieder gezwungen abzulehnen.
»Nimm den Kender, Sturm, und komm mit uns«, befahl Derek, Tanis ignorierend.
»Ich kann nicht, Herr«, erwiderte Sturm, seine Hand lag auf Tanis' Arm. »Er ist mein Führer, und meine Loyalität gilt zuerst meinen Freunden.«
Dereks Stimme war eiskalt vor Zorn. »Wenn das deine Entscheidung ist«, antwortete er, »kann ich dich nicht aufhalten. Aber es ist nicht gut für dich, Sturm Feuerklinge. Denke daran, daß du kein Ritter bist. Noch nicht. Bete, daß ich nicht dabei bin, wenn das Kapitel über deine Ritterschaft entscheiden muß!«
Sturm wurde leichenblaß. Er warf Tanis einen flüchtigen Seitenblick zu, der versuchte, bei diesen bestürzenden Neuigkeiten sein Erstaunen zu verbergen. Aber es gab keine Zeit zum Nachdenken. Der Klang der Hörner wurde jede Sekunde lauter. Die Ritter und die Gefährten trennten sich; die Ritter steuerten auf ihr Lager in den Bergen zu, die Gefährten blieben in der Stadt.
Überall standen Stadtbewohner vor ihren Häusern und rätselten über die seltsamen Hörner, die sie nie zuvor gehört hatten und deren Bedeutung sie nicht verstanden. Nur ein Tarsianer verstand. Der Lord in der Ratskammer sprang bei dem Geräusch auf die Füße. Er wirbelte herum und wandte sich an den selbstgefällig aussehenden Drakonier, der hinter ihm im Schatten saß.
»Du hast gesagt, wir würden verschont werden!« sagte der Lord mit zusammengepreßten Zähnen. »Wir sind immer noch in Verhandlungen...«
»Der Drachenfürst ist des Verhandelns müde geworden«, antwortete der Drakonier und unterdrückte ein Gähnen. »Und die Stadt wird verschont werden – nachdem sie ihre Lektion gelernt hat, natürlich.«
Der Kopf des Lords sank in seine Hände. Die anderen Mitglieder des Rats, die nicht ganz verstanden, was passierte, starrten sich entsetzt mit dämmerndem Erkennen an, als sie durch die Finger des Lords Tränen tropfen sahen.
Draußen zeigten sich die ersten roten Drachen am Himmel.
Es wurden Hunderte. Sie flogen in Dreier- oder Fünfergruppen, ihre Flügel glitzerten flammendrot wie die untergehende Sonne. Die Bewohner Tarsis' wußten nur eins: Über ihnen flog der Tod.
Als die Drachen auf die Stadt niederhielten, strömten sie die Drachenangst aus und verbreiteten eine Panik, die tödlicher war als Feuer. Die Leute hatten nur einen Gedanken, als die Schatten der Flügel das sterbende Tageslicht auslöschten Flucht.
Aber es gab keine Flucht.
Nach ihrem ersten Rundflug, wissend, daß sie auf keinen Widerstand stoßen würden, schlugen die Drachen zu. Einer nach dem anderen kreiste und ließ sich vom Himmel fallen. Ihr feuriger Atem entflammte ein Gebäude nach dem anderen. Die flackernden Feuer schufen ihre eigenen Windstürme. Rauchschwaden füllten die Straßen, verwandelten das Zwielicht in mitternächtliche Finsternis. Asche fiel herab wie schwarzer Regen. Schreie des Entsetzens verwandelten sich in Schreie des Todeskampfes, als die Bewohner im lodernden Inferno starben.
Als die Drachen zuschlugen, drängte sich ein Meer von vor Angst wahnsinnigen Menschen durch die lichterloh brennenden Straßen. Nur wenige hatten überhaupt eine Vorstellung, wohin sie liefen. Einige schrien, in den Bergen wäre man sicher, andere rannten zum ehemaligen Hafengebiet, und wieder andere versuchten die Stadttore zu erreichen. Über ihnen flogen die Drachen, verbrannten nach Lust und Laune, töteten zu ihrem Vergnügen.
Das Menschenmeer wälzte sich über Tanis und die Gefährten hinweg, stieß sie in die Straße, wirbelte sie auseinander, warf sie gegen Mauern. Der Rauch würgte sie und ließ sie fast erblinden. Sie kämpften gegen die Drachenangst an, die ihren Verstand zu zerstören drohte.
Die Hitze war so stark, daß ganze Gebäude zusammenfielen.
Tanis fing Gilthanas auf, als der Elf ins Innere eines Gebäudes gestoßen wurde. Er hielt ihn fest und konnte nur hilflos mit ansehen, wie seine Freunde vom Mob weggefegt wurden.
»Zurück zum Wirtshaus!« schrie Tanis. »Wir treffen uns im Wirtshaus!« Aber er wußte nicht, ob sie ihn gehört hatten. Er konnte nur hoffen, daß sie alle versuchen würden, in diese Richtung zu gelangen.
Sturm hielt Alhana in seinen starken Armen, er trug und zog sie halb durch diese Straßen des Todes. Er spähte durch den Ascheregen und versuchte, die anderen zu finden, aber es war hoffnungslos. Und dann begann der verzweifeltste Kampf, den er je geführt hatte. Er stützte Alhana und mußte selber auf den Füßen bleiben, während die furchtbaren menschlichen Wellen immer wieder auf sie einstürzten.
Dann wurde Alhana von dem kreischenden Mob aus seinen Armen gerissen. Sturm warf sich in die Menge, schob und stieß mit seinen gepanzerten Armen und Körper alles beiseite, bis er Alhanas Handgelenke ergriff. Sie war leichenblaß und zitterte vor Angst. Sie hängte sich mit ihrer ganzen Kraft an seinen Arm, und schließlich konnte er sie hochziehen. Ein Schatten kroch über sie. Ein gräßlich kreischender Drachen näherte sich der Straße, die mit Männern, Frauen und Kindern übersät war.
Sturm tauchte in einen Toreingang, zog Alhana mit sich und beschützte sie mit seinem Körper, als der Drache heran war. Flammen loderten auf, die Schreie der Sterbenden gellten herzzerreißend durch die Straße.