Es handelte sich um eine fast neun Meter lange Lanze. Die Spitze war aus purem Silber und mit einem Widerhaken versehen, der Schaft war aus poliertem Holz. Das untere Ende besaß eine Stahlkappe, um es in den Boden stoßen zu können.
»Sie ist wunderschön!« keuchte Tanis. »Was ist das?«
»Eine Drachenlanze«, antwortete Raistlin.
Der Magier hielt die Lanze in seiner Hand und trat zwischen die beiden, die zur Seite wichen, als ob sie nicht von ihm berührt werden wollten. Ihre Augen hingen an der Lanze. Dann drehte sich Raistlin zu Sturm und reichte ihm die Waffe.
»Es ist deine Drachenlanze, Ritter«, zischte Raistlin, »ohne Streitkolben und ohne Silberarm. Wenn du mit ihr in den Ruhm reiten willst, wirst du dann daran denken, daß für Huma mit dem Ruhm der Tod kam?«
Sturms Augen blitzten auf. Er hielt vor Ehrfurcht den Atem an, als er die Drachenlanze nehmen wollte. Zu seiner Verwunderung griff seine Hand durch die Waffe hindurch! Die Drachenlanze verschwand, noch während er sie zu berühren versuchte.
»Wieder einer deiner Tricks!« knurrte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging vor Wut keuchend von dannen.
»Wenn das ein Scherz sein sollte, Raistlin«, sagte Tanis ruhig, »dann war es ein sehr schlechter.«
»Ein Scherz?« wisperte der Magier. Seine seltsamen goldenen Augen folgten dem Ritter, als Sturm in die dichte Schwärze der Zwergenstadt am Fuße des Gebirges schritt. »Du solltest mich besser kennen, Tanis.«
Der Magier lachte – ein unheimliches Lachen, das Tanis zuvor nur einmal gehört hatte. Dann verbeugte Raistlin sich sardonisch vor dem Halb-Elf und folgte dem Ritter in die Schatten.
1
Schiffe mit weißen Flügeln
Hoffnung hinter den Staubigen Ebenen
Tanis, der Halb-Elf, wohnte der Versammlung der Sucherfürsten bei und hörte stirnrunzelnd zu. Obwohl die falsche Religion der Sucher jetzt offiziell tot war, wurde die Gruppe, die die politische Führung über die achthundert Flüchtlinge von Pax Tharkas übernommen hatte, immer noch so bezeichnet.
»Es ist ja nicht so, daß wir den Zwergen nicht dankbar wären, bei ihnen Unterschlupf gefunden zu haben«, führte Hederick überschwenglich aus und fuchtelte mit seiner vernarbten Hand.
»Wir alle sind dankbar, da bin ich mir sicher. So wie wir den Helden dankbar sind, die den Streitkolben von Kharas wieder erkämpft haben und uns dadurch den Aufenthalt hier ermöglichten.« Hederick verbeugte sich in Tanis' Richtung, der die Verbeugung mit einem Kopfnicken erwiderte. »Aber wir sind keine Zwerge!«
Diese eindringlichen Worte riefen beifälliges Gemurmel hervor.
»Wir Menschen sind für das unterirdische Leben nicht geschaffen!« Laute bejahende Zurufe und Applaus.
»Wir sind Bauern. Wir können in einem Berg kein Gemüse anpflanzen! Wir wollen Land, so wie jenes, das wir zurücklassen mußten. Und diejenigen, die uns gezwungen haben, unsere Heimat zu verlassen, müssen uns neues Land geben!«
»Meint er die Drachenfürsten?« flüsterte Sturm Tanis sarkastisch zu. »Diesem Wunsch werden sie sicherlich mit Freuden nachkommen.«
»Diese Dummköpfe sollten dankbar sein, daß sie am Leben sind!« murrte Tanis. »Sieh sie dir an, wie sie Elistan zujubeln als ob er sie befreit hätte!«
Der Kleriker von Paladin – und Führer der Flüchtlinge – erhob sich, um Hederick zu antworten.
»Weil wir eine neue Heimat brauchen«, sagte Elistan, »schlage ich vor, einige von uns in den Süden, nach Tarsis, der Schönen, zu schicken.«
Tanis kannte Elistans Plan bereits. Seine Gedanken wanderten zu der Zeit, als er und seine Gefährten von Derkins Grabmal mit dem heiligen Streitkolben zurückgekehrt waren. Die Zwergenlehnsmänner, unter der Führerschaft von Hornfell jetzt gefestigt, bereiteten sich auf die Schlacht gegen das vom Norden kommende Böse vor. Die Zwerge fürchteten sich nicht besonders vor diesem Bösen. Ihr Gebirgskönigreich schien uneinnehmbar zu sein. Und sie hatten ihr Versprechen gegenüber Tanis als Gegenleistung für den Streitkolben gehalten: Die Flüchtlinge von Pax Tarkas konnten sich in Südtor niederlassen, dem südlichsten Teil des Gebirgskönigreiches von Thorbadin.
Elistan hatte die Flüchtlinge nach Thorbadin gebracht. Alle versuchten, sich ihr Leben irgendwie neu einzurichten, aber es gelang ihnen nicht so recht.
Natürlich befanden sie sich in Sicherheit, aber die Flüchtlinge, überwiegend Bauern, waren nicht glücklich über das unterirdische Leben in den riesigen Zwergenhöhlen. Im Frühling konnten sie zwar versuchen, Getreide an der Gebirgswand anzubauen, aber der felsige Boden würde nur einen kärglichen Ertrag liefern. Die Menschen wollten in der Sonne und an der frischen Luft leben. Und sie wollten nicht von den Zwergen abhängig sein.
Es war Elistan, der sich an die uralten Legenden über Tarsis, die Schöne, und ihre möwenförmigen Schiffe erinnerte. Aber es waren lediglich Legenden, wie Tanis ihn erinnert hatte, als Elistan zum ersten Mal seine Idee erwähnte. Niemand in diesem Teil von Ansalon hatte etwas über die Stadt Tarsis, die Schöne, seit der Umwälzung vor dreihundert Jahren gehört. Damals hatten die Zwerge das Bergkönigreich Thorbadin dichtgemacht und somit auch jegliche Kommunikation zwischen Süden und Norden blockiert, da der einzige Weg durch das Kharolisgebirge durch Thorbadin führte. Tanis lauschte düster, als sich die Versammlung der Sucherfürsten einstimmig für Elistans Vorschlag entschied. Eine kleine Gruppe sollte nach Tarsis geschickt werden, um ausfindig zu machen, welche Schiffe in den Hafen einliefen, wohin sie fuhren und was eine Schiffsfahrt beziehungsweise ein Schiff kosten würde.
»Und wer soll die Gruppe anführen?« fragte sich Tanis, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Alle Augen richteten sich auf ihn. Bevor Tanis etwas sagen konnte, ging Raistlin, der die ganze Zeit ohne Kommentar zugehört hatte, nach vorn und stellte sich vor die Versammlung. Er starrte die Mitglieder mit seinen seltsamen goldglitzernden Augen an.
»Ihr seid Dummköpfe«, begann er, seine flüsternde Stimme klang verächtlich, »und ihr lebt in einem närrischen Traum. Wie oft muß ich mich wiederholen? Wie oft muß ich euch an das Omen der Sterne erinnern? Was denkt ihr euch dabei, wenn ihr im Abendhimmel die klaffenden schwarzen Löcher seht, dort, wo die zwei Konstellationen fehlen?«
Die Anwesenden rückten in ihren Sitzen, mehrere tauschten gelangweilte Blicke.
Raistlin bemerkte dies und fuhr fort, seine Stimme wurde immer verächtlicher. »Ja, einige von euch sagen, daß es nichts weiter als ein natürliches Phänomen ist – eine Sache, die eben passiert, so wie Blätter von den Bäumen fallen.«
Einige Versammlungsmitglieder murmelten sich nickend etwas zu. Raistlin beobachtete sie einen Moment schweigend, seine Lippen kräuselten sich vor Hohn. Dann hob er wieder an.
»Ich wiederhole, ihr seid Dummköpfe. Die als die Königin der Finsternis bekannte Konstellation fehlt am Himmel, weil die Königin hier auf Krynn anwesend ist. Die Kriegerkonstellation, die den uralten Gott Paladin verkörpert, wie wir aus den Scheiben von Mishakal erfahren haben, ist, um sie zu bekämpfen, auch nach Krynn zurückgekehrt.«
Raistlin hielt inne. Elistan, der sich unter ihnen befand, war ein Prophet von Paladin, und viele der Anwesenden waren zu dieser neuen Religion übergetreten. Er konnte den wachsenden Zorn spüren über das, was einige als Gotteslästerung empfanden. Die Vorstellung, daß Götter persönlich in die Angelegenheiten der Menschen eingriffen, war schockierend. Aber es hatte Raistlin niemals gestört, als Gotteslästerer betrachtet zu werden.
»Achtet gut auf meine Worte! Mit der Königin der Finsternis sind ihre ›kreischenden Kriegsheere‹ gekommen, wie es im ›Hohelied‹ heißt. Und die kreischenden Kriegsheere sind Drachen!« Raistlin brachte das letzte Wort mit einem Zischen hervor, das »die Haut erzittern ließ«, wie Flint gesagt hatte.