»Dieser riesige, dämliche Ochse! Ich brauche ihn. Er kann mir das doch nicht antun! Und Tanis!« Der Zwerg fluchte.
»Verdammt, ich brauche sie!«
Sturm legte seine Hand auf Flints Schulter. »Geh zu Tolpan zurück. Er braucht dich jetzt. Ich höre Drakonier in den Straßen. Wir...«
Laurana schrie auf, ein angstvoller, erbarmungswürdiger Schrei, der Sturm wie ein Speer durchbohrte. Er drehte sich um und konnte sie gerade noch festhalten, als sie in den Schutt laufen wollte.
»Laurana!« schrie er. »Versteh doch! Versteh doch!« Er schüttelte sie. »Nichts könnte das überleben!«
»Woher willst du das wissen!« schrie sie ihn wütend an und befreite sich aus seinem Griff. Auf Händen und Knien versuchte sie, einen Stein anzuheben. »Tanis!« schrie sie. Der Stein war aber so schwer, daß sie ihn nur wenige Millimeter bewegen konnte.
Sturm beobachtete sie verzweifelt, hilflos. Dann – Hörner!
Immer näher kamen sie, Hunderte, Tausende von Hörnern. Die Armee zog ein. Er sah Elistan an, der verstehend nickte. Beide Männer eilten zu Laurana.
»Meine Liebe«, begann Elistan sanft, »du kannst nichts für sie tun. Die Lebenden brauchen dich. Dein Bruder ist verletzt und auch der Kender. Die Drakonier marschieren ein. Entweder wir fliehen jetzt und bekämpfen weiter diese schrecklichen Ungeheuer, oder wir verlieren unser Leben in sinnloser Trauer. Tanis hat sein Leben für dich hingegeben, Laurana. Laß es kein sinnloses Opfer sein.«
Laurana starrte ihn an, ihr Gesicht war vom Ruß und Schmutz schwarz, mit Streifen von Tränen und Blut. Sie hörte die Hörner, sie hörte Gilthanas rufen, sie hörte Flint schreien, daß Tolpan im Sterben lag, sie hörte Elistans Worte. Und dann begann es zu regnen.
Der Regen lief über ihr Gesicht und kühlte ihre fiebrige Haut.
»Hilf mir, Sturm«, flüsterte sie. Er legte seinen Arm um sie.
Sie stand benommen auf und taumelte.
»Laurana!« rief ihr Bruder. Elistan hatte recht. Die Lebenden brauchten sie. Sie mußte zu ihm gehen. Obwohl sie sich lieber auf die Steine gelegt hätte, sie mußte gehen. Tanis hätte auch so gehandelt. Man brauchte sie. Sie mußte weitermachen.
»Leb wohl, Tanis«, flüsterte sie.
Der Regen wurde stärker, floß herab, als weinten die Götter um Tarsis, die Schöne.
Wasser tröpfelte auf seinen Kopf. Es war irritierend, kalt.
Raistlin versuchte sich vom Wasser wegzurollen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Ein schweres Gewicht drückte auf ihn.
Panik stieg in ihm auf, und verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. Mit der Furcht kehrte auch sein Bewußtsein zurück.
Und mit dem Wissen verschwand die Panik. Raistlin hatte wieder die Kontrolle über sich, und so wie er es gelernt hatte, zwang er sich, zu entspannen und die Situation zu durchdenken.
Er konnte nichts sehen. Es war zu dunkel, so daß er sich auf seine anderen Sinne konzentrieren mußte. Zuerst mußte er diese Last wegbekommen. Vorsichtig bewegte er seine Arme. Er spürte keinen Schmerz, anscheinend war nichts gebrochen. Er tastete weiter und berührte einen Körper. Caramon, seine Rüstung, sein Geruch. Er seufzte. Er hätte es wissen müssen. Er mußte seine ganze Kraft aufwenden, um seinen Bruder beiseite zu schieben und unter ihm hervorzukriechen.
Der Magier konnte nun leichter atmen und wischte das Wasser aus seinem Gesicht. Er tastete nach dem Hals seines Bruders und fühlte den Puls. Er schlug normal, sein Körper war warm, sein Atem ging regelmäßig. Raistlin legte sich erleichtert auf den Boden. Zumindest war er nicht allein, wo immer er auch war.
Aber wo war er? Raistlin rief sich die letzten entsetzlichen Momente ins Gedächtnis. Er erinnerte sich: Ein Balken splitterte, Tanis schleuderte Laurana von sich weg, er hatte einen Zauber geworfen, den letzten, zu dem er noch Kraft gehabt hatte.
Die Magie fuhr durch seinen Körper, schuf um ihn und die, die in seiner Nähe standen, einen Kreis, der sie vor anderen Gegenständen schützte. Caramon war über ihn gefallen, das Gebäude war um sie eingestürzt, und ein fallendes Gefühl.
Fallen...
Ah, Raistlin verstand. Sie mußten durch den Boden in den Keller gestürzt sein. Er tastete auf dem Steinboden herum und stellte dabei fest, daß er völlig durchnäßt war. Schließlich fand er das, was er gesucht hatte – den Zauberstab. Sein Kristall war unversehrt: Nur Drachenfeuer konnte den Stab, den er von Par-Salian im Turm der Erzmagier erhalten hatte, zerstören.
»Shirak«, befahl Raistlin, und der Stab leuchtete auf. Er setzte sich auf und blickte sich um. Ja, er hatte recht gehabt. Sie befanden sich im Keller des Wirtshauses. Der Inhalt zerbrochener Weinflaschen war überall auf den Boden geflossen. Bierschläuche waren aufgeplatzt. Er hatte nicht nur in Wasser gelegen.
Der Magier ließ das Licht über den Boden gleiten. Dort lagen Tanis, Flußwind, Goldmond, Tika, alle neben Caramon. Sie schienen in Ordnung zu sein. Um sie herum überall Schutt. Eine Hälfte des Balkens neigte sich leicht durch den Schutt.
Raistlin lächelte. Ein guter Zauberspruch. Einmal mehr standen sie in seiner Schuld.
Wenn wir nicht vor Kälte umkommen, fiel ihm bitter ein.
Sein Körper war so mitgenommen, daß er kaum den Stab halten konnte. Er begann zu husten. Es würde seinen Tod bedeuten.
Sie mußten hier herauskommen.
»Tanis«, rief er und schüttelte den Halb-Elf.
Tanis lag zusammengekauert am äußersten Rand von
Raistlins magischem Schutzkreis. Er murmelte etwas und bewegte sich. Raistlin schüttelte ihn wieder. Der Halb-Elf schrie auf, bedeckte instinktiv seinen Kopf mit den Armen.
»Tanis, du bist in Sicherheit«, flüsterte Raistlin hustend.
»Wach auf.«
»Was?« Tanis setzte sich kerzengerade auf, starrte um sich.
»Wo...« Dann erinnerte er sich. »Laurana?«
»Weg.« Raistlin zuckte die Schultern. »Du hast sie aus dem Gefahrenbereich geschleudert...«
»Ja...«, sagte Tanis und sank zurück. »Und ich hörte dich Worte sagen, magische...«
»Darum wurden wir nicht zerschmettert.« Raistlin zog zitternd seine nasse Robe enger um seinen Körper, während Tanis weiter um sich starrte, als wäre er auf den Mond gefallen.
»Wo im Namen des Abgrundes...«
»Wir sind im Keller des Wirtshauses«, unterbrach ihn der Magier. »Der Boden gab nach, und wir sind in den Keller gefallen.«
Tanis sah auf. »Bei allen Göttern«, flüsterte er erschrocken.
»Ja«, sagte Raistlin und folgte Tanis' Blick. »Wir sind lebendig begraben.«
Unter den Ruinen des Wirtshauses zum Roten Drachen besprachen die Gefährten ihre Lage. Sie war nicht gerade hoffnungsvoll. Goldmond behandelte ihre Verletzungen, die dank Raistlins Zauber nicht ernst waren. Aber sie hatten keine Vorstellung, wie lange sie ohnmächtig gewesen waren oder was über ihnen passiert war. Am schlimmsten war, sie wußten nicht, wie sie aus dem Keller hinauskommen sollten.
Caramon versuchte vorsichtig, einige Steine über ihren Köpfen zu bewegen, aber alles begann zu krachen und zu ächzen.
Raistlin erinnerte ihn scharf daran, daß er über keine Kraft für weitere Zaubersprüche verfügte, und Tanis bat den Krieger müde, es zu vergessen. Sie saßen im Wasser, das immer höher stieg.
Wie Flußwind bemerkte, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, was sie zuerst töten würde: der Mangel an Luft, die Kälte, das völlige Zusammenbrechen des Wirtshauses oder das Wasser.
»Wir könnten um Hilfe rufen«, schlug Tika vor, die versuchte, fest zu klingen.
»Dann kannst du die Drakonier gleich auch auf die Liste setzen«, schnappte Raistlin. »Denn das sind wahrscheinlich die einzigen Kreaturen, die dich hören werden.«
Tika errötete und strich sich mit der Hand über die Augen.
Caramon warf seinem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu, dann legte er seinen Arm um Tika und drückte sie an sich.
Raistlin schenkte ihnen einen angewiderten Blick.
»Ich höre überhaupt nichts von oben«, sagte Tanis verwirrt.
»Glaubt ihr, daß die Drachen und die Soldaten...« Er hielt inne, sein Blick traf Caramons, beide nickten langsam in plötzlichem Verstehen.