»Was?« fragte Goldmond.
»Wir befinden uns hinter der feindlichen Linie«, sagte Caramon. »Die Drakonierarmeen besetzen die Stadt. Und wahrscheinlich das ganze Land herum. Es gibt keinen Ausweg, und falls es einen gibt, können wir nirgendwohin gehen.«
Wie um seine Worte zu bekräftigen, hörten die Gefährten über sich Geräusche. Gutturale Drakonierstimmen, die sie nur allzugut kannten.
»Ich sage dir, es ist Zeitverschwendung«, winselte eine andere Stimme in der Umgangssprache, ein Goblin. »In diesem Durcheinander hat niemand überlebt.«
»Erzähl das mal dem Drachenfürsten, du erbärmlicher Hundeesser«, knurrte der Drakonier. »Ich bin mir sicher, daß seine Lordschaft an deiner Meinung sehr interessiert ist. Du hast deine Befehle. Grabt jetzt, alle.«
Nun hörte man kratzende und scharrende Geräusche. Steine wurden beiseite geschoben, Staubwolken rieselten durch Risse.
Der große Balken zitterte leicht, hielt aber stand.
Die Gefährten starrten sich an, hielten fast den Atem an. Sie erinnerten sich an die seltsamen Drakonier, die die Wirtsstube angegriffen hatten.
»Jemand ist hinter uns her«, sagte Raistlin.
»Was suchen wir hier eigentlich?« krächzte ein Goblin in der Goblinsprache. »Silber? Juwelen?«
Tanis und Caramon, die ein wenig Goblin konnten, versuchten, etwas besser zu hören.
»Nein«, sagte der erste Goblin, der offenbar die Befehle gab.
»Spione oder so etwas, die dem Drachenfürst persönlich vorgeführt werden sollen.«
»Hier drin?« fragte der Goblin erstaunt.
»Genau das habe ich doch gesagt«, schnarrte sein Kamerad.
»Diese Echsenmenschen sagten, daß sie alle hier in dem Wirtshaus waren, als der Drache es zerstört hat, und daß keiner entkommen ist, und darum denkt der Fürst, daß sie immer noch hier sind. Wenn du mich fragst – die Drakos haben etwas vermasselt, und wir müssen es ausbaden.«
Die Geräusche des Grabens und des Entfernens der Steine wurden wie die Stimmen der Goblins lauter, gelegentlich von einem scharfen Befehl eines Drakoniers unterbrochen. Es müssen ungefähr fünfzig sein! dachte Tanis. Er war wie gelähmt.
Flußwind hob leise sein Schwert aus dem Wasser und begann es trockenzuwischen. Caramon, dessen sonst so fröhliches Gesicht ernst war, ließ Tika los und suchte sein Schwert. Tanis hatte kein Schwert. Flußwind warf ihm seinen Dolch hinüber.
Tika wollte ihr Schwert ziehen, aber Tanis schüttelte den Kopf.
Sie würden auf engem Raum kämpfen müssen, und Tika brauchte unendlich viel Platz. Der Halb-Elf sah Raistlin fragend an.
Der Magier schüttelte den Kopf. »Ich werde es versuchen, Tanis«, flüsterte er. »Aber ich bin sehr müde. Sehr müde. Und ich kann nicht denken, mich nicht konzentrieren.« Er senkte seinen Kopf, zitterte heftig in seinen nassen Gewändern. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um nicht zu husten.
Ein Zauber wird ihn vernichten, wenn er ihn überhaupt schafft, wurde Tanis klar. Jedoch hat er dann mehr Glück als wir anderen. Zumindest ihn werden sie nicht lebend bekommen.
Die Geräusche über ihnen wurden immer lauter. Goblins sind starke, unermüdliche Arbeiter. Sie wollten diese Aufgabe schnell erledigen, um dann Tarsis zu plündern. Die Gefährten warteten in grimmigem Schweigen. Ein Strom von Staub, Schmutz und zerbröckelten Steinen ging unablässig zusammen mit frischem Regenwasser auf sie nieder. Sie hielten ihre Waffen fester. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis man sie entdecken würde.
Dann hörte man plötzlich neue Geräusche. Sie hörten die Goblins vor Furcht kreischen, die Drakonier schrien sie an, befahlen ihnen, weiterzuarbeiten. Aber die Schaufeln und Pickel wurden fallen gelassen, dann folgte das Fluchen der Drakonier, als sie versuchten, das aufzuhalten, was wie ein Goblinaufstand anmutete.
Über ihnen wurde das Kreischen der Goblins immer lauter, bis es zu einem lauten, klaren, schrillen Schrei anwuchs, von einem weiter entfernten Schrei beantwortet. Es war der Ruf eines Adlers, der bei Sonnenuntergang über den Ebenen kreist.
Aber dieser Ruf war direkt über ihnen.
Dann schrie ein Drakonier auf. Es folgte ein reißendes Geräusch – als ob der Körper der Kreatur entzweigerissen wurde.
Weitere Schreie, das Aufeinanderprallen von Eisen, wieder Rufe und Antworten – dieses Mal noch näher.
»Was ist denn los?« fragte Caramon mit zwei aufgerissenen Augen. »Das ist kein Drache. Es klingt wie – wie ein riesiger Raubvogel!«
»Was immer es auch ist, es reißt die Drakonier in Stücke!« sagte Goldmond ehrfürchtig, während sie weiterlauschten. Die Schreie hörten abrupt auf, ließen ein Schweigen zurück, das fast noch schlimmer war. Welches neue Böse hatte das alte ersetzt?
Dann wurden Schutt und Steine und Holz hochgehoben und beiseite geschleudert. Was auch immer sich oben befand, es wollte sie unten erreichen!
»Erst hat es die Drakonier gefressen«, flüsterte Caramon rauh, »und jetzt ist es hinter uns her!«
Tika wurde leichenblaß und klammerte sich an Caramons Arm. Goldmond stöhnte leise auf, und selbst Flußwinds Miene verlor ein wenig ihren Gleichmut, und er starrte aufmerksam nach oben.
»Caramon«, sagte Raistlin zitternd, »halt den Mund!«
Tanis fühlte sich geneigt, dem Magier beizupflichten. »Wir fürchten uns wegen nie...«, begann er. Er wurde von einem lauten Schmettern unterbrochen. Steine und Schutt, Mörtel und Holz stürzten auf sie herab. Sie krochen in Deckung, als ein riesiger Klauenfuß durch den Schutt brach, seine Krallen glänzten im Licht von Raistlins Stab.
Hilflos Schutz suchend unter zerbrochenen Balken oder Weinschläuchen, beobachteten die Gefährten erstaunt, wie sich die Riesenklaue aus dem Schutt befreite und verschwand, hinter sich ein großes klaffendes Loch zurücklassend.
Alles war still. Eine Zeitlang wagten die Gefährten nicht, sich zu bewegen. Aber die Stille blieb.
»Das ist unsere Chance«, flüsterte Tanis. »Caramon, sieh nach, was oben los ist.«
Aber der Krieger war bereits aus seinem Versteck gekrochen und bewegte sich so gut es ging über den mit Schutt übersäten Boden. Flußwind folgte mit gezogenem Schwert.
»Nichts«, sagte Caramon, als er verwirrt nach oben spähte.
Tanis, der sich ohne sein Schwert wie nackt fühlte, ging zu ihnen und starrte ebenfalls nach oben. Dann erschien zu seiner Verwunderung eine dunkle Gestalt, die sich gegen den brennenden Himmel abhob. Hinter der Gestalt zeigte sich ein riesiges Tier. Sie konnten nur den Kopf eines großen Adlers erkennen, dessen Augen im Feuerschein glitzerten und dessen gekrümmter Schnabel in den Flammen strahlte.
Die Gefährten schraken zurück, aber es war zu spät. Offensichtlich hatte die Gestalt sie gesehen. Sie trat näher. Flußwind dachte zu spät an seinen Bogen. Caramon zog Tika mit einer Hand zu sich, in der anderen hielt er sein Schwert.
Die Gestalt jedoch kniete einfach am Rand des Loches nieder, achtete sorgfältig auf die losen Steine und streifte ihre Kapuze zurück.
»So treffen wir uns also wieder, Tanis Halb-Elf«, sagte eine Stimme, so kalt und so rein und so fern wie die Sterne.
8
Flucht aus Tarsis. Die Geschichte der Kugeln der Drachen
Drachen flogen über die zerstörte Stadt Tarsis, während die Drakonierarmeen einmarschierten, um sie in Besitz zu nehmen. Die Drachen hatten ihre Aufgabe erfüllt. Bald würde der Drachenfürst sie zurückrufen, damit sie sich für den nächsten Angriff bereithielten. Aber jetzt konnten sie sich ausruhen. Die roten Drachen schwebten am Himmel, vollführten in gut organisierter Formation einen berauschenden Todestanz.
Keine Macht auf Krynn konnte sie noch aufhalten. Das wußten sie, und sie jubelten über ihren Sieg. Aber gelegentlich wurde ihr Tanz unterbrochen. Einem Schwarmführer beispielsweise wurde über einen Kampf bei der Ruine eines Wirtshauses berichtet. Der junge männliche rote Drache, den er mit einer kleinen Schar zum Schauplatz beorderte, murmelte etwas von Unfähigkeit des Truppenbefehlshabers vor sich hin. Was konnte man auch schon erwarten, wenn der Drachenfürst ein aufgeblasener Hobgoblin war, der nicht einmal genügend Mut hatte, der Übernahme einer Stadt wie Tarsis beizuwohnen?