»Das wissen wir alles«, schnappte Hederick ungeduldig. Sein abendlicher Glühwein war längst überfällig, und sein Durst verlieh ihm den Mut zu sprechen. Aber er bereute es sofort, denn Raistlins Stundenglasaugen schienen den Theokraten wie schwarze Pfeile zu durchbohren. »W...worauf willst du hinaus?«
»Daß es auf Krynn nirgendwo Frieden gibt«, flüsterte der Magier. »Findet Schiffe, reist wohin ihr wollt. Wo immer ihr auch hingeht – wann immer ihr in den Abendhimmel seht, werdet ihr diese schwarzen Löcher sehen. Wo immer ihr auch hingeht, werden auch Drachen sein!«
Raistlin hustete. Sein Körper krümmte sich unter dem Anfall, und er schien zu stürzen, aber sein Zwillingsbruder, Caramon, rannte zu ihm und fing ihn in seinen starken Armen auf. Nachdem Caramon den Magier aus der Versammlung geführt hatte, schien sich eine dunkle Wolke gehoben zu haben. Die Versammlungsmitglieder schüttelten sich und lachten – wenn auch etwas benommen – über diese Kindergeschichten. Der Gedanke war einfach komisch, daß sich der Krieg auf ganz Krynn ausgebreitet hatte. Denn hier, in Ansalon, stand der Krieg bereits vor seinem Ende. Der Drachenfürst Verminaard war besiegt, und seine Drakonierarmeen waren zurückgetrieben worden. Die Mitglieder erhoben sich und verließen den Saal, um ins Wirtshaus oder nach Hause zu gehen.
Niemand dachte daran, Tanis zu fragen, ob er die Gruppe nach Tarsis führen wollte. Sie gingen einfach davon aus, daß er es tun würde.
Tanis tauschte mit Sturm grimmige Blicke und verließ die Höhle. In dieser Nacht sollte er Wache halten. Obwohl sich die Zwerge in ihrer Bergfestung sicher fühlten, hatten Tanis und Sturm auf eine Wache an den Mauern von Südtor bestanden. Sie hatten allmählich die Drachenfürsten respektieren gelernt...
Tanis lehnte sich an die Mauer, sein Gesicht war nachdenklich und ernst. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese, die mit weichem, pudrigem Schnee bedeckt war. Die Nacht war ruhig und still. Hinter ihr lag das Kharolisgebirge. Das Tor von Südtor wirkte wie ein riesiger Stopfen in der Gebirgswand – eine der Schutzmaßnahmen der Zwerge, die ihre Welt dreihundert Jahre lang von der Umwälzung und zerstörerischen Zwergenkriegen ferngehalten hatte.
Das Tor wurde durch einen Mechanismus im Innern des Berges bewegt. Wie das nördliche Tor galt es auf Krynn als uneinnehmbar. Einmal geschlossen, konnte es nicht mehr von der Gebirgswand unterschieden werden; ein wahres Meisterwerk der alten Zwergensteinmetze.
Seit der Ankunft der Menschen in Südtor jedoch war das Tor geöffnet und mit Fackeln erleuchtet, was den Männern, Frauen und Kindern ermöglichte, an die frische Luft zu gehen – ein menschliches Bedürfnis, das für die unterirdischen Zwerge eine maßlose Schwäche darstellte.
Während Tanis dastand und lange auf die Wälder hinter der Wiese schaute, was ihm aber keinen Frieden brachte, traten Sturm, Elistan und Laurana zu ihm. Die drei hatten sich unterhalten – offensichtlich über ihn – und schwiegen nun unbehaglich.
»Wie ernst du bist«, sagte Laurana leise zu Tanis. Sie trat näher zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du meinst, daß Raistlin recht hat, nicht wahr, Tanthal... Tanis?« Laurana errötete. Sein menschlicher Name kam ihr immer noch schwer über die Lippen, aber sie wußte inzwischen nur zu gut, daß sein Elfenname ihm nur Schmerz bereitete.
Tanis sah auf die kleine, schmale Hand auf seinem Arm und legte zärtlich seine Hand über sie. Nur wenige Monate zuvor hätte ihn diese Berührung geärgert, Verwirrung und Schuldgefühle verursacht, als er glaubte, das, was ihn mit Laurana verband, wäre nichts als eine kindliche Vernarrtheit gewesen und daß seine Liebe allein einer Menschenfrau gehörte. Aber jetzt erfüllte ihn Lauranas Berührung mit Wärme und Frieden, auch wenn es sein Blut erregte. Er dachte über diese neuen beunruhigenden Gefühle nach, während er ihre Frage beantwortete.
»Ich finde Raistlins Ratschläge seit langem vernünftig«, sagte er. Er wußte, daß diese Antwort die drei aufregen würde. Sturms Gesicht verdüsterte sich auch. Elistan runzelte die Stirn. »Und ich denke, daß er auch diesmal recht hat. Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber wir sind noch weit davon entfernt, den Krieg zu gewinnen. Wir wissen, daß er weit im Norden, in Solamnia, ausgetragen wird. Wir können also sicher davon ausgehen, daß es den Kräften der Dunkelheit nicht nur um die Eroberung von Abanasinia geht.«
»Aber das sind doch reine Vermutungen!« entgegnete Elistan. »Laß dich doch nicht von der Dunkelheit, die über dem jungen Magier hängt, anstecken. Er mag ja recht haben, aber das ist kein Grund, die Hoffnung aufzugeben und nicht doch einen Versuch zu wagen! Tarsis ist eine große Hafenstadt zumindest nach dem, was wir wissen. Dort können wir herausbekommen, ob wirklich überall Krieg ist. Und wenn dem so ist, dann gibt es sicherlich Zufluchtsorte, wo wir Frieden finden können.«
»Hör auf Elistan, Tanis«, sagte Laurana. »Er ist weise. Als unser Volk Qualinesti verlassen hat, ist es nicht blindlings geflohen. Sie sind zu einem friedlichen Zufluchtsort gezogen. Mein Vater hatte einen Plan, obwohl er nicht wagte, ihn zu enthüllen...«
Laurana brach ab, über die Wirkung ihrer Rede bestürzt. Tanis hatte sich abrupt losgerissen und sich Elistan zugewandt, die Augen voller Zorn.
»Raistlin sagte einmal, Hoffnung ist die Leugnung der Wirklichkeit«, erklärte Tanis kalt. Dann sah er Elistans kummervolles Gesicht und lächelte müde. »Es tut mir leid, Elistan. Ich bin müde, das ist alles. Verzeih mir. Dein Vorschlag ist gut. Wir werden mit Hoffnung nach Tarsis reisen, auch wenn es das einzige ist, was wir haben.«
Elistan nickte und wandte sich zum Gehen. »Kommst du mit, Laurana? Ich weiß, du bist müde, meine Liebe, aber wir haben eine Menge zu tun, bevor ich die Führerschaft der Versammlung während meiner Abwesenheit übergeben kann.«
»Ich komme gleich nach, Elistan«, sagte Laurana. »Ich – ich möchte einen Moment mit Tanis sprechen.«
Elistan schenkte beiden einen verständnisvollen Blick, dann ging er mit Sturm durch das dunkle Tor. Tanis begann, die Fackeln als Vorbereitung für die Schließung des Tores zu löschen. Laurana stand neben dem Eingang, ihre Miene wurde eisig, als ihr klarwurde, daß Tanis sie einfach übersah.
»Was ist mit dir los?« fragte sie schließlich. »Es klingt fast so, als ob du für den düsteren und merkwürdigen Magier und gegen Elistan Partei ergreifst, einen der besten und weisesten Menschen, den ich je kennengelernt habe!«
»Verurteile Raistlin nicht, Laurana«, sagte Tanis barsch und tauchte dabei eine Fackel in ein Wassergefäß. Das Licht erstarb mit einem Zischen. »Dinge sind nicht immer schwarz und weiß, wie ihr Elfen gern denkt. Der Magier hat unser Leben mehr als einmal gerettet. Ich bin im Laufe der Zeit dazu gekommen, seinem Denken zu vertrauen – was ich auch, zugegeben, leichter kann, als auf blinden Glauben zu vertrauen!«
»Ihr Elfen!« schrie Laurana. »Wie typisch menschlich das klingt! In dir steckt mehr von einem Elfen, als du zugeben möchtest, Tanthalas! Du hast einmal gesagt, du trägst den Bart nicht, um dein Erbe zu verbergen, und ich habe dir geglaubt. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich lebe jetzt lang genug mit Menschen zusammen, um zu wissen, wie sie über Elfen denken! Aber ich bin stolz auf meine Herkunft. Du nicht! Du schämst dich! Warum? Wegen dieser menschlichen Frau, die du liebst? Wie heißt sie noch – Kitiara?«
»Hör auf, Laurana!« schrie Tanis. Er warf eine Fackel auf den Boden und ging zu dem Elfenmädchen. »Wenn du darüber streiten möchtest – was ist dann mit dir und Elistan? Er mag wohl ein Kleriker von Paladin sein, aber er ist ein Mann – eine Tatsache, die du zweifellos bestätigen kannst! Alles, was ich von dir höre«, er ahmte ihre Stimme nach, »ist: ›Elistan ist so weise‹, ›Frag Elistan, er weiß, was zu tun ist‹, ›Hör auf Elistan, Tanis...‹«