»Pah!« brummte der Ritter, keuchte dann schmerzerfüllt auf, als ein Pfeil in seinen Arm drang. Die Wunde war nicht tief, da sein Kettenhemd den Aufprall abgemildert hatte, aber er blutete. »Das ist ein Traum?« fragte Sturm und zog den blutbefleckten Schaft heraus.
Tanis sprang vor den Ritter und wehrte die Feinde ab, während Sturm die Blutung stillte.
»Raistlin hat gesagt...«, begann Tanis.
»Raistlin! Hah! Sieh dir doch nur seine Robe an, Tanis!«
»Aber du bist hier! In Silvanesti!« protestierte Tanis plötzlich verwirrt. Er hatte das merkwürdige Gefühl, daß er mit sich selbst stritt. »Alhana sagte, du wärst auf dem Weg zur Eismauer! «
Der Ritter zuckte die Schultern. »Vielleicht wurde ich geschickt, um dir zu helfen.«
In Ordnung. Es ist ein Traum, redete sich Tanis ein. Ich werde aufwachen.
Aber es gab keine Veränderung. Die Elfen waren immer noch da und kämpften weiter. Sturm mußte recht haben. Raistlin hatte gelogen. Aber warum? Zu welchem Zweck?
Dann wußte es Tanis. Die Kugel der Drachen!
»Wir müssen den Turm vor Raistlin erreichen!« schrie Tanis Sturm zu. »Ich weiß jetzt, worauf der Magier aus ist!«
Der Ritter konnte nur noch nicken. Es schien Tanis, daß sie von dem Moment an nichts anderes taten, als um jeden Zentimeter Boden zu kämpfen. Immer wieder schlugen die beiden Krieger die untoten Elfen zurück, nur um von einer immer größer werdenden Anzahl angegriffen zu werden. Sie wußten zwar, daß die Zeit verstrich, aber sie hatten kein genaues Zeitgefühl. Einen Moment lang schien die Sonne durch den stickigen grünen Nebel. Dann schoben sich die nächtlichen Schatten über das Land wie die Flügel von Drachen.
Doch dann, als sich die Dunkelheit vertiefte, erblickten Sturm und Tanis den Turm. Aus Marmor gebaut, glitzerte der hohe Turm weiß. Er stand allein in einer Lichtung und reichte bis zum Himmel wie ein Knochenfinger, der aus einem Grab hervorkrallt.
Beim Anblick des Turms begannen beide Männer zu laufen.
Obgleich schwach und erschöpft, wollten sie doch beide nicht länger nach Anbruch der Nacht in diesem tödlichen Wald bleiben. Die Elfenkrieger, die ihre Beute entkommen sahen, stürzten wutkreischend hinter ihnen her.
Tanis lief, bis er glaubte, seine Lungen würden vor Schmerzen platzen. Sturm rannte vor ihm und schlug auf die Untoten ein, die vor ihm erschienen und versuchten, den Weg zu verstellen. Gerade als sich Tanis dem Turm näherte, wickelte sich eine Baumwurzel um seine Stiefel. Er stürzte sich überschlagend auf den Boden.
Panisch versuchte Tanis, sich zu befreien, aber die Wurzel hielt ihn fest. Tanis schlug hilflos um sich, als ein untoter Elf mit grotesk verzerrter Fratze den Speer gegen ihn erhob. Plötzlich glomm Entsetzen in den Augenhöhlen des Elfs auf, der Speer fiel aus seiner Knochenhand, als ein Schwert durch seinen durchsichtigen Körper drang. Der Untote löste sich mit einem Kreischen auf.
Tanis blickte hoch, um zu sehen, wer sein Leben gerettet hatte. Es war ein fremder Krieger, fremd und dennoch vertraut. Er hob seinen Helm, und Tanis starrte in hellbraune Augen!
»Kitiara!« keuchte er bestürzt. »Du hier? Wie? Warum?«
»Ich hörte, daß du Hilfe brauchst«, antwortete Kit mit ihrem Lächeln, bezaubernd wie immer. »Scheint, daß ich recht hatte.«
Sie streckte ihre Hand aus. Er ergriff sie zweifelnd und ließ sich hochziehen. Aber sie war aus Fleisch und Blut. »Wer ist denn da vorn? Sturm? Herrlich! Wie in alten Zeiten! Gehen wir in den Turm?« fragte sie Tanis und lachte über sein überraschtes Gesicht.
Flußwind kämpfte allein, kämpfte gegen Heerscharen von untoten Elfenkriegern. Er spürte, seine Kräfte ließen rasch nach.
Dann hörte er einen deutlichen Ruf. Er hob seine Augen und sah seine Que-Shu-Stammesleute! Er schrie erfreut auf. Aber zu seinem Entsetzen hielten sie ihre Bogen auf ihn gerichtet.
»Nein!« schrie er auf Que-Shu. »Erkennt ihr mich nicht? Ich...«
Die Que-Shu-Krieger antworteten nur mit ihren Pfeilen.
Flußwind fühlte ein Geschoß nach dem anderen in seinen Körper dringen.
»Du brachtest den blauen Kristallstab über uns!« schrien sie.
»Deine Schuld! Die Zerstörung deines Dorfes war deine Schuld!«
»Ich wollte es nicht«, flüsterte er, als er zu Boden sank. »Ich wußte es nicht. Vergebt mir.«
Tika hackte und schlug sich ihren Weg durch die Elfenkrieger, die sich plötzlich in Drakonier verwandelten! Ihre Reptilienaugen glühten rot, ihre Zungen leckten über ihre Schwerter.
Furcht lähmte das Mädchen. Stolpernd stieß sie mit Sturm zusammen. Der Ritter wirbelte ärgerlich herum, befahl ihr, aus dem Weg zu gehen. Sie taumelte zurück und fiel gegen Flint.
Der Zwerg schob sie ungeduldig zur Seite.
Von Tränen blind, beim Anblick der Drakonier vor Panik gelähmt, die mit ihren toten Körpern in die Schlacht zurücksprangen, verlor Tika jegliche Kontrolle über sich. In ihrer Angst stach sie wild auf alles ein, was sich bewegte.
Erst als sie sich umschaute und Raistlin in seiner schwarzen Robe vor sich stehen sah, kam sie wieder zu sich. Der Magier sagte nichts, er zeigte nur nach unten. Flint lag tot zu ihren Füßen, durchbohrt von ihrem Schwert.
Ich habe sie hierhergeführt, dachte Flint. Ich bin dafür verantwortlich. Ich bin der Älteste. Ich hole sie hier heraus.
Der Zwerg holte seine Streitaxt hervor und schrie den Elfenkriegern einen Schlachtruf zu. Aber sie lachten nur.
Wütend schritt Flint vorwärts – aber er spürte, daß er steif ging. Seine Kniegelenke waren angeschwollen und schmerzten unerträglich. Seine schwieligen Finger bebten in einer Schüttellähmung, so daß er seinen Griff an der Streitaxt lockern mußte.
Sein Atem kam schwach. Und dann wußte Flint, warum die Elfen nicht angriffen: Sein hohes Alter würde ihn selbst zerstören.
Als ihm das klarwurde, spürte Flint sein Bewußtsein wandern. Seine Sicht verblaßte. Er griff in eine Tasche in seinem Gewand, fragte sich, wo er die verdammte Brille hingepackt hatte. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf, eine vertraute Gestalt.
War es Tika? Ohne seine Brille konnte er nichts sehen...
Goldmond lief unter den entstellten Bäumen umher. Verloren und allein suchte sie verzweifelt ihre Freunde. Weit entfernt hörte sie Flußwind zwischen den klirrendem Aufprall von Schwertern nach ihr rufen. Dann verwandelte sich sein Rufen in einen Todesschrei. Angstgepeinigt stürzte sie weiter, kämpfte sich durch die Dornenbüsche, bis ihre Hände und ihr Gesicht bluteten. Schließlich fand sie Flußwind. Der Krieger lag auf dem Boden, von vielen Pfeilen durchbohrt – Pfeile, die sie wiedererkannte!
Sie kniete neben ihm nieder. »Heile ihn, Mishakal«, betete sie, so wie sie schon oft gebetet hatte.
Aber nichts passierte. Die Farbe kehrte in Flußwinds aschgrauem Gesicht nicht wieder zurück. Seine Augen blieben geschlossen.
»Warum antwortest du nicht? Heile ihn!« schrie Goldmond zu der Göttin. Und dann wußte sie den Grund. »Nein!« kreischte sie. »Bestrafe mich! Ich bin diejenige, die Zweifel hatte. Ich bin diejenige, die Bedenken hatte! Ich erlebte die Zerstörung von Tarsis, ich sah Kinder im Todeskampf sterben! Wie konntet ihr das zulassen? Ich versuche, zu glauben, aber ich kann nicht helfen, wenn ich bei diesem Entsetzen Zweifel habe! Bestraft nicht ihn.« Weinend beugte sie sich über den leblosen Körper ihres Gatten. Sie sah nicht, daß die Elfenkrieger in engem Kreis näher rückten.
Tolpan, fasziniert von den entsetzlichen Wundern um ihn herum, kam vom Weg ab und entdeckte, daß seine Freunde es irgendwie – geschafft hatten, ihn zu verlieren. Die Untoten störten ihn nicht. Ihre Nahrung war die Angst der anderen, und von ihm spürten sie keine Angst ausgehen.
Als er fast einen ganzen Tag lang umhergestreift war, erreichte der Kender schließlich die Tore des Sternenturms. Hier kam seine leichtherzige Reise zu einem plötzlichen Ende, denn er hatte seine Freunde gefunden – zumindest einen.