Gerettet, dachte Tanis und blickte aus dem Fenster auf die entstellten Bäume. Obwohl die untoten Elfenkrieger nicht länger durch den Wald stolzierten, lebten die gequälten Formen, die Lorac in seinem Alptraum geschaffen hatte, immer noch.
Die im Todeskampf verrenkten Bäume weinten immer noch Blut. Wer wird nun hier leben? fragte Tanis sich traurig. Die Elfen werden nicht zurückkehren. Böse Dinge werden in diesem dunklen Wald einkehren, und Loracs Alptraum wird Wirklichkeit werden.
An den alptraumartigen Wald denkend, fragte sich Tanis plötzlich, wo seine anderen Freunde waren. Waren sie unversehrt? Was war, wenn sie an den Alptraum geglaubt hatten wie Raistlin sagte? Hatten sie dann wirklich sterben müssen?
Ihn verließ der Mut, als ihm klarwurde, daß er jetzt in diesen wahnsinnigen Wald zurückkehren mußte, um sie zu suchen.
Gerade als der Halb-Elf seinen müden Körper zwingen wollte, sich auf den Weg zu machen, betraten seine Freunde das Audienzzimmer.
»Ich habe ihn getötet!« weinte Tika, als sie Tanis erblickte.
Ihre Augen waren vor Trauer und Entsetzen weit geöffnet.
»Nein! Berühr mich nicht, Tanis. Du weißt nicht, was ich getan habe. Ich habe Flint getötet! Ich wollte es nicht, Tanis, das schwöre ich!«
Als Caramon eintrat, wandte sich Tika schluchzend an ihn.
»Ich habe Flint getötet, Caramon. Komm nicht näher!«
»Pssst«, sagte Caramon und umarmte sie. »Es war ein Traum, Tika. So wie Raist gesagt hat. Der Zwerg war niemals hier.« Er streichelte Tikas rote Locken und küßte sie. Tika umklammerte ihn, Caramon umklammerte sie, beide fanden Trost beim anderen. Allmählich hörte Tika auf zu schluchzen.
»Mein Freund«, sagte Goldmond und öffnete ihre Arme, um Tanis zu umarmen.
Er sah ihren ernsten, niedergeschlagenen Gesichtsausdruck und hielt sie eng an sich gedrückt, während er fragend zu Flußwind blickte. Was hatten sie wohl geträumt? Aber der Barbar schüttelte nur den Kopf, sein Gesicht war blaß und betrübt.
Dann kam ihm in den Sinn, daß jeder seinen eigenen Traum durchlebt hatte, und er erinnerte sich plötzlich an Kitiara! Wie real sie gewesen war! Und Laurana, sterbend. Er schloß seine Augen und legte seinen Kopf an Goldmonds. Er fühlte Flußwinds starke Arme sie beide umfassen. Ihre Liebe machte ihn glücklich. Das Entsetzen des Traums begann zu weichen.
Und dann hatte Tanis einen beängstigenden Gedanken. Loracs Traum war Wirklichkeit geworden! Würden auch ihre Träume Wirklichkeit werden?
Hinter sich hörte Tanis Raistlin husten. Der Magier faßte sich an die Brust und sank auf die Stufen zu Loracs Thron. Tanis sah Caramon, der immer noch Tika an sich gedrückt hielt, seinen Bruder besorgt musternd. Aber Raistlin ignorierte seinen Bruder. Er legte sich auf den kalten Boden und schloß erschöpft die Augen.
Seufzend zog Caramon Tika enger an sich. Tanis beobachtete, wie ihr kleiner Schatten Teil von Caramons größerem Schatten wurde, ihre Körper von den verzerrten silbernen und roten Mondstrahlen umrissen.
Wir müssen alle schlafen, dachte Tanis. Seine Augen brannten. Aber wie können wir? Wie können wir jemals wieder schlafen?
12
Geteilte Visionen. Loracs Tod
Schließlich schliefen sie jedoch ein. Auf dem Steinboden des Sternenturms zusammengekauert, blieben sie so eng wie möglich zusammen. Während sie schliefen, erwachten andere in einem kalten und feindlichen Land, einem Land, sehr weit von Silvanesti entfernt.
Laurana wurde als erste wach. Sie schreckte mit einem Aufschrei aus dem Schlaf hoch, zuerst hatte sie keine Vorstellung, wo sie sich befand. Dann sagte sie nur ein Wort: »Silvanesti!«
Flint erwachte zitternd. Die Schmerzen in seinen Beinen waren nicht schlimmer als sonst.
Sturm erwachte in Panik. Er schüttelte sich vor Entsetzen, lange Zeit konnte er sich nur bebend in seine Decke kauern.
Dann hörte er etwas von draußen vor seinem Zelt. Er schreckte hoch und kroch mit seinem Schwert vorwärts und schlug die Zeltbahn zurück.
»Oh!« keuchte Laurana beim Anblick seines Gesichts.
»Es tut mir leid«, sagte Sturm, »ich wollte nicht...« Dann sah er, daß sie so zitterte, daß sie kaum ihre Kerze halten konnte.
»Was ist los?« fragte er beunruhigt.
»Ich... ich weiß, es klingt dumm«, sagte Laurana und errötete, »aber ich hatte einen furchtbaren Traum und konnte nicht mehr einschlafen.«
Zitternd ließ sie zu, daß Sturm sie in das Zelt führte. Die Kerzenflamme warf hüpfende Schatten auf die Zeltwände.
Sturm, der befürchtete, Laurana könnte die Kerze fallen lassen, nahm sie ihr ab.
»Ich wollte dich nicht wecken, aber ich hörte dich schreien. Und mein Traum war so wirklich! Du kamst auch vor – ich sah dich...«
»Wie sieht Silvanesti aus?« unterbrach Sturm sie abrupt.
Laurana starrte ihn an. »Aber davon habe ich geträumt, daß wir dort wären! Warum fragst du? Sofern... du nicht auch von Silvanesti geträumt hast!«
Sturm zog seinen Umhang enger um sich und nickte. »Ich...«, begann er, dann hörte er von draußen ein anderes Geräusch.
Dieses Mal öffnete er nur das Zelt: »Komm rein, Flint«, sagte er müde.
Der Zwerg stapfte mit gerötetem Gesicht hinein. Er schien jedoch über Lauranas Anwesenheit verlegen zu sein und stotterte etwas, bis Laurana ihn anlächelte.
»Wir wissen es«, sagte sie. »Du hattest einen Traum. Silvanesti?«
Flint hustete, räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. »Anscheinend bin ich nicht der einzige«, stellte er fest und starrte auf die beiden. »Ich vermute, ihr wollt, daß ich euch meinen Traum erzähle.«
»Nein!« sagte Sturm eilig, sein Gesicht war blaß. »Nein, ich will darüber nicht reden – niemals!«
»Ich auch nicht«, sagte Laurana leise.
Zögernd klopfte Flint ihr auf die Schulter. »Da bin ich erleichtert. Über meinen Traum könnte ich auch nicht reden. Ich wollte nur sehen, ob es ein Traum war. Er schien so wirklich, daß ich erwartet habe, euch beide...«
Der Zwerg verstummte. Von draußen hörte man ein Rascheln, dann kroch Tolpan aufgeregt ins Zelt.
»Habe ich euch über einen Traum reden gehört? Ich träume nie – jedenfalls erinnere ich mich nicht. Kender träumen nicht viel. Oder vielleicht doch. Selbst Tiere träumen, aber...« Er bemerkte Flints Blick und wandte sich wieder eilig dem ursprünglichen Thema zu. »Nun! Ich hatte den phantastischsten Traum! Bäume, die Blut geweint haben! Entsetzliche tote Elfen, die umherschlichen und Leute töteten! Raistlin trug eine schwarze Robe! Das war das Unglaublichste! Und du warst dabei, Sturm. Auch Laurana und Flint. Und alle sind gestorben! Nun, fast alle. Raistlin nicht. Und dann war da noch ein grüner Drache...«
Tolpan verstummte. Was war denn mit seinen Freunden los?
Ihre Gesichter waren totenblaß, ihre Augen weit aufgerissen.
»G...grüner Drache«, stammelte er. »Raistlin, in Schwarz gekleidet. Habe ich das schon erwähnt? A...auf einmal. Rot ließ ihn immer ein wenig gelbsüchtig aussehen, wenn ihr versteht, was ich meine. Nicht! Na ja, ich g...glaube, ich gehe wieder schlafen. Oder wollt ihr noch mehr wissen?« Er blickte sich hoffnungsvoll um. Keiner antwortete.
»Nun, g...gute Nacht«, murmelte er. Überstürzt ging er aus dem Zelt und kehrte, verwirrt den Kopf schüttelnd, auf seine Lagerstatt zurück. Was war denn mit allen los? Es war doch nur ein Traum...
Lange Zeit sprach niemand. Dann seufzte Flint.
»Es macht mir ja nichts aus, einen Alptraum zu haben«, sagte der Zwerg mürrisch. »Aber ich habe etwas dagegen, ihn mit einem Kender zu teilen. Was meint ihr denn, warum wir alle den gleichen Traum hatten? Und was bedeutet er?«
»Ein fremdes Land – Silvanesti«, sagte Laurana. Sie nahm ihre Kerze und wollte gehen. Dann sah sie zurück. »Glaubt ihr... glaubt ihr, daß es Wirklichkeit war? Sind sie gestorben, so wie wir es gesehen haben?« War Tanis mit dieser menschlichen Frau zusammen? dachte sie, behielt die Frage aber für sich.