»Wir sind hier«, sagte Sturm. »Wir sind nicht gestorben. Wir können nur hoffen, daß die anderen auch nicht tot sind. Und...«, er hielt inne, »... es scheint merkwürdig, aber irgendwie weiß ich, daß sie leben.«
Laurana musterte den Ritter einen Moment aufmerksam, sah, daß er sich nach dem anfänglichen Schock und Entsetzen beruhigt hatte. Sie fühlte sich erleichtert. Sie streckte ihre Hand aus und nahm Sturms starke, schlanke Hand und drückte sie schweigend. Dann drehte sie sich um und verschwand.
Der Zwerg erhob sich. »Nun, soviel zum Schlafen. Ich werde jetzt Wache halten.«
»Ich begleite dich«, sagte Sturm und stand auf.
»Vermutlich werden wir es nie erfahren«, sagte Flint, »warum wir alle den gleichen Traum hatten.«
»Vermutlich nicht«, stimmte Sturm zu.
Der Zwerg verließ das Zelt. Sturm wollte ihm folgen, hielt aber inne, als sein Blick auf einen Lichtschein fiel. Er bückte sich, dachte, daß es wohl Wachs von Lauranas Kerze sein würde, fand aber statt dessen den Juwel von Alhana, der aus seinem Gürtel gefallen war und auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und bemerkte, daß er mit seinem eigenen inneren Licht strahlte, etwas, was ihm vorher nicht aufgefallen war.
»Vermutlich nicht«, wiederholte Sturm nachdenklich und drehte den Juwel immer wieder in seiner Hand.
Zum ersten Mal seit vielen, langen, entsetzlichen Monaten dämmerte der Morgen in Silvanesti. Aber nur einer sah ihn. Lorac beobachtete von seinem Schlafkammerfenster aus, wie die Sonne sich über die glitzernden Espen erhob. Die anderen schliefen noch. Alhana war die ganze Nacht nicht von ihres Vaters Seite gewichen, war dann aber vor Erschöpfung auf ihrem Stuhl eingeschlafen. Das blasse Sonnenlicht beleuchtete ihr Gesicht. Ihr langes schwarzes Haar floß über ihr Gesicht wie Risse in weißem Marmor. Ihre Haut war von Dornen aufgerissen. Lorac sah ihre Schönheit, aber diese Schönheit war von Arroganz verunstaltet. Sie war die Verkörperung ihres Volkes.
Er wandte sich um und sah wieder aus dem Fenster auf Silvanesti, fand aber keinen Trost. Ein grüner, verderbter Nebel hing immer noch über Silvanesti, als ob der Boden selbst verrottet wäre.
»Das ist meine Schuld«, sagte er zu sich, seine Augen weilten auf den entstellten Bäumen; die erbarmungswürdigen, mißgebildeten Tiere, die durch das Land streiften, nach einem Ende ihrer Qual suchten.
Seit über vierhundert Jahren lebte Lorac in diesem Land. Er hatte erlebt, wie es Gestalt angenommen hatte, unter seinen Händen und den Händen seines Volkes aufgeblüht war.
Es hatte auch schwierige Zeiten gegeben. Lorac war einer der wenigen auf Krynn, die sich noch an die Umwälzung erinnern konnten. Aber die Silvanesti-Elfen hatten sie weitaus besser als andere in der Welt überstanden – indem sie sich von den anderen Rassen entfernt hatten. Sie wußten, warum die uralten Götter Krynn verlassen hatten – sie hatten das Böse in den Menschen gesehen -, obwohl sie nicht erklären konnten, warum auch die Elfenkleriker verschwunden waren.
Die Elfen von Silvanesti erfuhren natürlich über die Winde und die Vögel und auf anderen geheimnisvollen Wegen von den Leiden ihrer Vettern, den Qualinesti, nach der Umwälzung.
Und obwohl sie über die Geschichten von Vergewaltigung und Mord trauerten, fragten sich die Silvanesti, was man denn auch anderes erwarten konnte, wenn man mit Menschen zusammenlebte. Sie zogen sich in ihren Wald zurück, entsagten der Außenwelt und störten sich wenig daran, daß die Außenwelt ihnen entsagte.
Folglich fand Lorac es unmöglich zu begreifen, wie dieses neue Unheil aus dem Norden hereinbrechen und seine Heimat bedrohen konnte. Was wollten sie von den Silvanesti? Er traf sich mit den Drachenfürsten, erklärte ihnen, daß die Silvanesti ihnen keine Schwierigkeiten bereiten wollten. Die Elfen waren überzeugt, daß jeder das Recht hätte, auf Krynn zu leben, jeder auf seine eigenen Weise, böse oder gut. Dann kam der Tag, an dem Lorac klarwurde, daß er getäuscht worden war – der Tag, an dem sich der Himmel mit Drachen verdunkelte.
Die Elfen wurden jedoch nicht unvorbereitet getroffen. Lorac hatte dafür zu lange gelebt. Schiffe warteten, um das Volk in Sicherheit zu bringen. Lorac befahl ihnen, unter dem Kommando seiner Tochter aufzubrechen. Als er dann allein war, stieg er in die Kammer unterhalb des Sternenturms, wo er die Kugel der Drachen versteckt hielt.
Nur seine Tochter und die seit langem verlorenen Kleriker wußten von der Existenz der Kugel. Alle anderen in der Welt glaubten, daß sie während der Umwälzung zerstört worden war.
Lorac setzte sich neben sie, starrte sie viele Tage an. Er rief sich die Warnungen der Hohen Magier ins Gedächtnis, erinnerte sich an alles, was er über die Kugel wußte. Schließlich, als ihm voll bewußt war, daß er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wie sie eigentlich wirkte, entschied Lorac, sie auszuprobieren, um sein Land zu retten.
Er erinnerte sich lebhaft an die Kugel, erinnerte sich, wie sie mit einem wirbelnden, faszinierenden grünen Licht brannte, das pulsierte und stärker wurde, als er sie ansah. Und er erinnerte sich, fast vom ersten Moment an erkannt zu haben, als seine Finger auf der Kugel ruhten, daß er einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Er hatte weder die Kraft noch die Macht, die Magie zu beherrschen. Aber da war es schon zu spät. Die Kugel hatte ihn gefangen und hielt ihn verzaubert, und es war der entsetzlichste Teil seines Alptraums gewesen, ständig daran erinnert zu werden, daß er nur träumte, und dennoch unfähig war, aus dem Traum auszubrechen.
Und jetzt war aus dem Alptraum Wirklichkeit geworden. Lorac senkte seinen Kopf, schmeckte an seinem Mund bittere Tränen. Dann spürte er sanfte Hände an seinen Schultern.
»Vater, ich kann es nicht ertragen, dich weinen zu sehen. Komm vom Fenster weg. Leg dich wieder ins Bett. Das Land wird wieder so schön sein wie früher. Du wirst helfen, daran zu arbeiten...«
Aber Alhana konnte nicht ohne Schaudern aus dem Fenster sehen. Lorac spürte sie zittern und lächelte traurig.
»Wird unser Volk zurückkehren, Alhana?« Er starrte nach draußen auf das Grün, das nicht das kraftvolle Grün des Lebens war, sondern das des Zerfalls und des Todes.
»Natürlich«, antwortete Alhana schnell.
»Eine Lüge, mein Kind? Seit wann belügen sich die Elfen gegenseitig?«
»Ich glaube, daß wir uns wahrscheinlich immer belogen haben«, murmelte Alhana, sich an das erinnernd, was sie von Goldmond erfahren hatte. »Die uralten Götter haben Krynn nicht verlassen, Vater. Eine Klerikerin von Mishakal reiste mit uns und erzählte, was sie erfahren hatte. Ich... ich wollte es nicht glauben, Vater. Ich war eifersüchtig. Sie ist trotz allem ein Mensch, und warum sollten die Götter zu den Menschen mit dieser Hoffnung gehen? Aber ich weiß jetzt, daß die Götter weise sind. Sie sind zu den Menschen gegangen, weil die Elfen sie niemals angenommen hätten. Durch unsere Trauer, an diesem verwüsteten Ort zu leben, werden wir lernen – so wie du und ich gelernt haben -, daß wir nicht länger in der Welt leben können und gleichzeitig getrennt von ihr. Die Elfen werden arbeiten, nicht nur um dieses Land wieder aufzubauen, sondern alle Länder, die vom Bösen heimgesucht worden sind.«
Lorac hörte zu. Seine Augen wanderten von der zerstörten Landschaft zu seiner Tochter, deren Gesicht blaß und strahlend wie der silberne Mond war. Er streckte seine Hand aus, um sie zu berühren.
»Und du wirst es zurückholen? Unser Volk?«
»Ja, Vater«, versprach sie und ergriff seine kalte, fleischlose Hand und hielt sie fest. »Wir werden arbeiten, schwer arbeiten. Wir werden die Götter um Vergebung bitten. Wir werden zu den anderen Völkern von Krynn gehen und...« Tränen flossen aus ihren Augen und ließen sie nicht weitersprechen, denn sie sah, daß Lorac sie nicht mehr hören konnte. Seine Augen verdunkelten sich, und er sank in einen Stuhl zurück.
»Ich übergebe mich dem Land«, flüsterte er. »Bette meinen Körper in die Erde, Tochter. So wie mein Leben diesen Fluch über die Erde gebracht hat, so wird mein Tod ihr vielleicht Segen bringen.«