»Das war wundervoll!« sagte Tolpan ehrfürchtig. »Flint, hast du gesehen, wie der Leichnam lebendig wurde?«
»Nein!« schnappte der Zwerg. »Und du auch nicht. Laßt uns hier verschwinden«, fügte er bebend hinzu.
Dann erschien Derek. »Ich habe dir einen Befehl erteilt, Sturm Feuerklinge! Warum die Verzögerung?« Dereks Gesicht verdunkelte sich vor Wut, als er die Lanze sah.
»Ich bat ihn, sie mir zu holen«, sagte Laurana, ihre Stimme war so kalt wie die Eiswand hinter ihr. Sie nahm die Lanze und begann sie schnell in einen Fellumhang aus ihrem Gepäck einzuwickeln.
Derek musterte sie einen Moment lang wütend, dann verbeugte er sich steif und drehte sich auf dem Absatz um.
»Tote Ritter, lebende Ritter, ich weiß nicht, was schlimmer ist«, murrte Flint, packte Tolpan und zog ihn hinter Derek her.
»Was ist, wenn diese Waffe dem Bösen geweiht ist?« fragte Sturm Laurana leise, als sie durch die Eiskorridore des Schlosses wanderten.
Laurana warf einen letzten Blick auf den Ritter und den Drachen. Die kalte blasse Sonne des Südlandes ging gerade unter; ihr Licht warf wässrige Schatten auf die Leichname und verlieh ihnen ein düsteres Aussehen. Während sie schaute, glaubte sie zu erkennen, wie der Körper leblos in sich zusammensackte.
»Glaubst du an die Geschichte von Huma?« fragte Laurana leise.
»Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch glauben soll«, sagte Sturm. Bitterkeit verhärtete sein Gesicht. »Früher war für mich alles schwarz und weiß, alles war klar herausgeschnitten und eindeutig geformt. Ich glaubte an die Geschichte von Huma. Meine Mutter lehrte mich, sie als Wahrheit zu sehen. Dann reiste ich nach Solamnia.« Er stockte, als ob er nicht gern weitererzählen wollte. Schließlich, als er Lauranas interessiertes und mitfühlendes Gesicht sah, schluckte er und fuhr fort. »Ich habe das noch nie jemandem erzählt, nicht einmal Tanis. Als ich in meine Heimat zurückkehrte, fand ich, daß die Ritterschaft nicht jene ehrenwerten, sich aufopfernden Männer waren, wie meine Mutter sie mir beschrieben hatte. Es wurde politisch intrigiert. Die besten Männer waren wie Derek, ehrenhaft, aber streng und unbeugsam, mit wenig Sinn für jene, die sie als unter ihnen stehend betrachteten. Die schlimmsten...«, er schüttelte den Kopf. »Als ich von Huma sprach, lachten sie. Ein Wanderritter, so nannten sie ihn. Nach ihrer Darstellung war er aus der Ritterschaft wegen Mißachtung der Gesetze verbannt worden. Huma streife im Land umher, sagten sie, mache sich bei den Bauern beliebt, die dann Legenden um ihn schufen.«
»Aber hat er denn wirklich existiert?« fragte Laurana, traurig über das Leid in Sturms Gesicht.
»O ja, ohne Zweifel. Die Aufzeichnungen, die die Umwälzung überstanden haben, führen seinen Namen bei den niedrigen Ritterorden. Aber die Geschichten vom Silberdrachen, von der Letzten Schlacht, selbst von der Drachenlanze – glaubt niemand mehr. Wie Derek sagt, es gibt keinen Beweis. Das Grabmal von Huma war nach der Legende ein gewaltiges Gebilde – eines der Weltwunder. Aber du wirst niemanden finden, der es jemals gesehen hätte. Alles, was wir haben, sind Kindergeschichten, würde Raistlin sagen.« Sturm bedeckte seine Augen mit einer Hand und seufzte tief.
»Weißt du«, sagte er leise, »ich habe nie daran gedacht, es auszusprechen, aber ich vermisse Raistlin. Ich vermisse sie alle. Ich fühle mich, als ob ein Teil von mir abgeschnitten wurde, und das gleiche Gefühl hatte ich in Solamnia. Darum bin ich zurückgekommen, anstatt zu warten und die Prüfungen für meine Ritterwürde zu Ende abzulegen. Diese Leute – meine Freunde – haben mehr getan, um das Böse in dieser Welt zu bekämpfen, als alle Ritter zusammen. Selbst Raistlin, auf eine Weise, die ich nicht verstehen kann. Er könnte uns sagen, was das alles zu bedeuten hat.« Er deutete mit seinen Daumen auf den im Eis gefangenen Ritter. »Zumindest würde er daran glauben. Wenn er nur hier wäre. Wenn Tanis hier wäre...«
Sturm konnte nicht weitersprechen.
»Ja«, sagte Laurana ruhig. »Wenn Tanis hier wäre...« Er erinnerte sich an ihren eigenen Kummer, der soviel größer als sein eigener war, und legte seinen Arm um Laurana und hielt sie an sich gedrückt. Die beiden standen einen Moment so da, beide getröstet durch die Gegenwart des anderen. Dann ertönte Dereks scharfe Stimme hinter ihnen, der sie für ihr Zurückbleiben rügte.
Und jetzt lag die zerbrochene Lanze, eingewickelt in Lauranas Fellumhang, mit der Kugel der Drachen und mit Drachentöter, Tanis' Schwert, das Laurana und Sturm aus Tarsis mitgenommen hatten, in einer Kiste. Daneben lagen die Leichname der beiden jungen Ritter, die ihr Leben bei der Verteidigung der Gruppe gelassen hatten und zur Beerdigung in ihre Heimat zurückgebracht werden sollten.
Der starke Südwind, der ungestüm und kalt von den Gletschern blies, trieb das Schiff über das Sirrion-Meer. Der Kapitän hatte ihnen mitgeteilt, daß sie Sankrist in zwei Tagen erreichen könnten, wenn der Wind weiterhin so bleiben würde.
»Dort liegt das südliche Ergod«, zeigte der Kapitän Elistan.
»Wir erreichen gleich das südliche Ende. Heute abend wirst du die Kristin-Insel sehen. Und dann, bei gutem Wind, werden wir Sankrist erreichen. Seltsame Sache im südlichen Ergod«, fügte der Kapitän hinzu und warf Laurana einen Blick zu. »Man sagt, es sei von Elfen übervölkert, aber ich war noch nicht dort, um mich davon zu überzeugen.«
»Elfen?« fragte Laurana interessiert und stellte sich zum Kapitän.
»Aus ihrer Heimat geflohen, hörte ich«, fuhr der Kapitän fort. »Vertrieben von den Drachenarmeen.«
»Vielleicht unser Volk!« sagte Laurana und klammerte sich an Gilthanas, der neben ihr stand. Sie blickte aufmerksam über den Schiffsbug, als ob sie das Land auftauchen lassen könnte.
»Wahrscheinlicher die Silvanesti«, antwortete Gilthanas.
»Ich glaube sogar, Lady Alhana hat etwas über Ergod erwähnt. Erinnerst du dich, Sturm?«
»Nein«, antwortete der Ritter kurz angebunden. Er drehte sich um und ging nach Backbord, lehnte sich gegen die Reling und starrte auf das rosafarbene Wasser. Laurana sah, wie er etwas aus seinem Gürtel zog und es zärtlich zwischen seine Finger gleiten ließ. Ein Strahl blitzte auf, wie gefangene Sonnenstrahlen, dann ließ er es in seinen Gürtel zurückgleiten. Sein Kopf senkte sich. Laurana wollte gerade zu ihm gehen, als sie plötzlich innehielt, weil sie eine Bewegung wahrnahm.
»Was ist das für eine seltsame Wolke dort drüben im Süden?«
Der Kapitän drehte sich unverzüglich um, zog sein Fernglas aus seiner Felljacke und setzte es an. »Schick einen Mann nach oben«, befahl er seinem ersten Schiffsoffizier.
Innerhalb von Sekunden kletterte ein Matrose das Takelwerk hoch. Mit einem Arm hielt er sich in schwindelerregender Höhe am Mast fest und spähte mit dem Fernglas in den Süden.
»Kannst du was erkennen?« rief der Kapitän.
»Nein, Käpt'n«, bellte der Mann. »Wenn es eine Wolke sein sollte, dann habe ich so etwas noch nie gesehen.«
»Ich werde nachschauen«, bot sich Tolpan freiwillig an. Der Kender begann wie der Matrose geschickt an den Seilen hochzuklettern. Er erreichte den Mast, hielt sich neben dem Matrosen am Takelwerk fest und starrte in den Süden.
Es war sicherlich eine Wolke. Aber sie war riesig und weiß und schien über dem Wasser zu schweben. Aber sie bewegte sich viel zu schnell, schneller als die Wolken im Himmel und...
Tolpan keuchte. »Leihst du mir das mal?« fragte er und streckte die Hand nach dem Fernglas aus. Widerstrebend gab ihm der Mann das Glas. Tolpan setzte es an seine Augen, dann stöhnte er leise auf. »O je«, murmelte er. Er senkte das Glas und stopfte es geistesabwesend in seine Tunika. Der Matrose packte ihn am Kragen, als er gerade nach unten gleiten wollte.
»Was?« fragte Tolpan erstaunt. »Oh! Gehört dir das? Tut mir leid.« Er warf noch einen versonnenen Blick auf das Fernglas und gab es dem Matrosen zurück. Tolpan ließ sich geschickt an den Tauen heruntergleiten, landete auf dem Deck und rannte zu Sturm.