Ein Hemd, offensichtlich von einem Elfenlord weggeworfen, hing an ihren Schultern. Sie war blaß und zu dünn, unterernährt. Ihr glanzloses Haar war so verfilzt, daß man unmöglich die Farbe erkennen konnte. Aber die Hand, die Gilthanas berührte, war schlank und schön geformt. Sorge und Mitgefühl für ihn standen in ihrem sanften Gesicht.
»Nun«, sagte Sturm, »und was geschieht mit uns in dieser Situation?«
»Die Silvanesti haben sich einverstanden erklärt, uns zu meinem Volk zu begleiten«, sagte Laurana und errötete dabei. Offenbar war dies ein Punkt harter Auseinandersetzungen gewesen. »Zuerst bestanden sie darauf, uns zu ihren Ältesten zu bringen, aber ich sagte, daß ich nirgendwo hingehen würde, ohne meinen Vater zu begrüßen und die Angelegenheit mit ihm zu bereden. Dagegen konnten sie nicht viel sagen.« Laurana lächelte leicht, obwohl in ihrer Stimme ein Hauch Bitterkeit lag. »Bei allen Stämmen ist eine Tochter solange an das Haus ihres Vaters gebunden, bis sie volljährig wird. Mich gegen meinen Willen hierzubehalten, würde als Raub angesehen werden und offene Feindseligkeit hervorrufen. Und dazu ist keine Seite bereit.«
»Sie lassen uns also passieren, obwohl sie wissen, daß wir die Kugel der Drachen haben?« fragte Derek erstaunt.
»Sie lassen uns nicht passieren«, sagte Laurana scharf. »Ich sagte, sie bringen uns zu meinem Volk.«
»Aber im Norden befindet sich ein solamnischer Außenposten«, argumentierte Derek. »Dort könnten wir ein Schiff nach Sankrist bekommen...«
»Du würdest nicht einmal lebend diese Bäume erreichen, wenn du versuchen solltest, zu fliehen«, sagte Flint und nieste heftig.
»Er hat recht«, sagte Laurana. »Wir müssen zu den Qualinesti und meinen Vater überzeugen, uns zu helfen, die Kugel nach Sankrist zu bringen.« Eine kleine, dunkle Linie erschien zwischen ihren Augenbrauen, die Sturm sagte, daß sie nicht überzeugt war, daß das so einfach war, wie es klang. »Und jetzt haben wir lang genug geredet. Sie haben mir Zeit gelassen, euch die Lage zu erklären, aber wir sollten ihre Geduld nicht auf die Probe stellen. Ich muß nach Gilthanas sehen. Sind wir uns einig?«
Laurana musterte jeden Ritter mit einem Blick, der nicht Bejahung suchte, sondern auf die Anerkennung ihrer Führerschaft wartete. Einen Moment sah sie Tanis so ähnlich, daß Sturm lächeln mußte. Aber Derek lächelte nicht. Er war wütend und enttäuscht, um so mehr, da er wußte, daß er nichts dagegen unternehmen konnte.
Schließlich jedoch stieß er eine gemurmelte Antwort hervor, daß sie wohl das Beste daraus machen müßten, und stolzierte weg. Flint und Sturm folgten, der Zwerg nieste so sehr, daß er sich selbst fast von den Füßen hob.
Laurana ging zu ihrem Bruder zurück, sich dabei in ihren weichen Lederstiefeln lautlos auf dem Sand bewegend. Aber die Wild-Elfe hörte ihr Kommen. Sie hob ihren Kopf, warf Laurana einen ängstlichen Blick zu und kroch weg wie ein Tier, das beim Anblick eines Menschen zurückschreckt. Aber Tolpan, der sich mit ihr in einer merkwürdigen Mischung aus Umgangssprache und Elfensprache unterhalten hatte, faßte sie sanft am Arm.
»Geh nicht weg«, sagte der Kender fröhlich. »Das ist die Schwester des Elfenlords. Sieh mal, Laurana. Gilthanas geht es schon besser. Es muß an diesem Zeug liegen, das sie auf sein Gesicht gelegt hat. Ich hätte schwören können, daß er tagelang außer Gefecht sein würde.« Tolpan erhob sich. »Laurana, das ist meine Freundin – wie war dein Name noch mal?«
Das Mädchen hielt die Augen auf den Boden gerichtet und zitterte heftig. Sie murmelte etwas, das niemand verstehen konnte.
»Wie war dein Name, Kind?« fragte Laurana mit einer so süßen und sanften Stimme, daß das Mädchen schüchtern ihre Augen hob.
»Silvart«, sagte sie leise.
»Das bedeutet ›silberhaarig‹ in der Kaganesti-Sprache, nicht wahr?« fragte Laurana. Sie kniete sich zu Gilthanas und half ihm aufzusitzen. Benommen tastete er mit seiner Hand nach seinem Gesicht, wo das Mädchen eine dicke Paste über die blutende Wunde gestrichen hatte.
»Geh nicht daran«, warnte Silvart und ergriff blitzschnell Gilthanas' Hand. Sie sprach die Umgangssprache, aber nicht grob, sondern klar und genau.
Gilthanas stöhnte vor Schmerzen auf, schloß die Augen und ließ seine Hand fallen. Silvart starrte ihn in tiefem Mitgefühl an. Sie wollte sein Gesicht streicheln, aber sie zog schnell ihre Hand weg und erhob sich, als sie auf Laurana schaute.
»Warte«, sagte Laurana. »Warte, Silvart.«
Das Mädchen versteifte sich und starrte Laurana mit solch einer Angst an, daß Laurana von Scham überwältigt wurde.
»Hab keine Angst. Ich möchte dir für deine Hilfe danken. Tolpan hat recht. Ich dachte mir zwar, daß seine Verletzung nicht sehr ernst war, aber du hast ihm sehr geholfen. Bitte bleibe bei ihm, wenn du möchtest.«
Silvart blickte zum Boden. »Ich werde bei ihm bleiben, wenn das Euer Befehl ist.«
»Es ist nicht mein Befehl, Silvart«, sagte Laurana. »Es ist mein Wunsch. Und ich heiße Laurana.«
Silvart hob die Augen. »Dann werde ich gern bei ihm bleiben, Laurana, wenn das dein Wunsch ist.« Sie beugte ihren Kopf, und man konnte kaum ihre Worte verstehen. »Mein richtiger Name, Silvara, bedeutet silberhaarig. Sie nennen mich Silvart.« Sie blickte zu den Silvanesti-Kriegern, dann fuhren ihre Augen zu Laurana zurück. »Bitte, ich möchte, daß du mich Silvara nennst.«
Die Silvanesti brachten eine provisorische Trage, die sie aus einer Decke und Baumästen gebaut hatten. Sie hoben den Elfenlord – nicht unsanft – auf die Trage. Silvara ging mit Tolpan neben ihm. Tolpan erzählte weiter, erfreut, jemanden gefunden zu haben, der seine Geschichten noch nicht kannte. Laurana und Elistan gingen auf der anderen Seite von Gilthanas. Laurana hielt seine Hand und wachte zärtlich über ihn. Hinter ihnen folgte Derek, sein Gesicht dunkel und bewölkt, die Kiste mit der Kugel der Drachen auf seiner Schulter. Am Ende des Zugs marschierte eine Gruppe Silvanesti-Elfen.
Die Morgendämmerung brach gerade grau und bedrückend an, als sie die Baumgrenze an der Küste erreichten. Flint zitterte. Er drehte seinen Kopf und starrte auf das Meer. »Was hat Derek gesagt über ein – ein Schiff nach Sankrist?«
»Leider ja«, erwiderte Sturm. »Wir sind auf einer Insel.«
»Und wir müssen dorthin?«
»Ja.«
»Um die Kugel der Drachen anzuwenden? Wir wissen nichts darüber!«
»Die Ritter werden es erfahren«, sagte Sturm leise. »Die Zukunft der Welt hängt davon ab.«
»Pfff!« schnaufte der Zwerg. Er warf einen verängstigten Blick auf das Wasser, dann schüttelte er düster den Kopf. »Ich weiß nur, daß ich zweimal beinahe ertrunken wäre, von einer tödlichen Krankheit heimgesucht wurde...«
»Du warst seekrank.«
»Von einer tödlichen Krankheit heimgesucht wurde«, wiederholte Flint laut, »und Schiffbruch erlitten habe. Achte auf meine Worte, Sturm Feuerklinge – Boote bringen uns nur Unglück. Wir hatten bisher nur Ärger, seitdem wir unsere Füße in dieses verdammte Boot am Krystalmir-See gesetzt haben. Dort war es auch, als der verrückte Magier zum ersten Mal gesehen hat, daß die Konstellationen verschwunden sind, und von da an ging es mit unserem Glück bergab. Solange wir uns weiterhin auf Boote verlassen, kann es nur noch schlimmer werden.«
Sturm lächelte, als er den Zwerg durch den Sand stapfen sah.
Aber sein Lächeln verwandelte sich in ein Seufzen. Ich wünschte, alles wäre so einfach, dachte der Ritter.
15
Die Stimme der Sonnen. Lauranas Entscheidung
Die Stimme der Sonnen, Führer der Qualinesti-Elfen, saß in einer einfachen Schutzhütte aus Holz und Schlamm, die die Kaganesti-Elfen für ihn gebaut hatten. Er betrachtete sie als einfach – für die Kaganesti dagegen war es ein wunderbar großes und gutgebautes Haus, ausreichend für fünf bis sechs Familien. Sie hatten es in der Tat für so viele Familien gebaut und waren schockiert, als die Stimme erklärte, es würde gerade für seine Bedürfnisse reichen, und nur mit seiner Frau einzog. Was die Kaganesti natürlich nicht wußten, war, daß das Haus der Stimme im Exil das Hauptquartier für alle Angelegenheiten der Qualinesti wurde. Die zeremoniellen Wachen nahmen die gleichen Positionen ein wie in den Hallen des Palastes von Qualinost. Die Stimme hielt seine Audienzen zur gleichen Zeit und in der gleichen höflichen Weise ab, nur war die Decke eine mit Schlamm bedeckte Kuppel aus Dachgras und nicht aus glitzernden Mosaiken, seine Wände aus Holz und nicht aus Kristallquarz.