Die Stimme hielt jeden Tag Audienzen ab, die Tochter seiner Schwägerin saß als Schreiberin an seiner Seite. Er trug die gleichen Roben, führte seine Staatsgeschäfte mit dem gleichen selbstbewußten Auftreten. Und dennoch gab es Unterschiede.
Die Stimme hatte sich in den wenigen Monaten auf drastische Weise verändert. Jedoch keiner der Qualinesti wunderte sich darüber. Die Stimme hatte seinen jüngsten Sohn auf eine Mission geschickt, die die meisten als Selbstmord betrachteten.
Noch schlimmer war, daß seine geliebte Tochter zu ihrem Halb-Elfen-Liebhaber weggelaufen war. Die Stimme ging davon aus, beide Kinder nicht mehr wiederzusehen.
Den Verlust seines Sohnes Gilthanas hätte er akzeptieren können. Denn trotz allem war es eine heldenhafte, erhabene Tat. Der junge Mann hatte eine Gruppe Abenteurer in die Minen von Pax Tarkas geführt, um die dort gefangengehaltenen Menschen zu befreien und dadurch die Drachenarmeen, die nach Qualinesti marschierten, abzulenken. Dieser Plan hatte sich als erfolgreich herausgestellt – ein unerwarteter Erfolg.
Die Drachenarmeen waren nach Pax Tarkas zurückgerufen worden, so daß die Elfen Zeit hatten, zur Westküste ihres Landes zu fliehen, um von dort aus über das Meer zum südlichen Ergod zu gelangen.
Die Stimme konnte jedoch nicht den Verlust seiner Tochter akzeptieren – beziehungsweise die Schande.
Es war der älteste Sohn der Stimme, Porthios, gewesen, der ihm die Angelegenheit kühl dargelegt hatte, nachdem Lauranas Verschwinden bekanntgeworden war. Sie war ihrem Jugendfreund – Tanis, dem Halb-Elfen – hinterhergerannt. Die Stimme war verzweifelt, von Kummer verzehrt. Wie konnte sie das nur tun? Wie konnte sie Schande über ihre Familie bringen? Eine Prinzessin, die einem Bastard nachjagt!
Lauranas Flucht verdunkelte für ihren Vater das Sonnenlicht. Glücklicherweise gab ihm die Notwendigkeit, sein Volk zu führen, die Kraft, weiterzumachen. Aber es gab Zeiten, in denen die Stimme am Sinn des Ganzen zweifelte. Er hätte sein Amt niederlegen und seinem ältesten Sohn den Thron übergeben können. Porthios erledigte jetzt schon fast alles und traf die meisten Entscheidungen. Der junge Elfenlord erwies sich als hervorragender Führer, obwohl einige fanden, daß er bei Verhandlungen mit den Silvanesti und den Kaganesti zu grob verfuhr.
Die Stimme war auch dieser Ansicht, und das war der Hauptgrund, warum der Porthios nicht sein Amt überließ. Gelegentlich versuchte er seinem ältesten Sohn klarzumachen, daß mit Mäßigung und Geduld mehr zu erreichen war als mit Drohungen und Schwertergerassel. Aber Porthios glaubte, daß sein Vater zu weich und sentimental war. Die Silvanesti betrachteten aufgrund ihrer strengen Kastenstruktur die Qualinesti kaum als Angehörige der Elfenrasse und die Kaganesti überhaupt nicht der Elfenrasse zugehörig; diese sahen sie als eine Unterrasse der Elfen, ähnlich wie die Gossenzwerge von den anderen Zwergen als eine Unterrasse angesehen wurden. Porthios war fest davon überzeugt, obwohl er das seinem Vater nicht mitteilte, daß dieser Konflikt mit Blutvergießen enden mußte.
Seine Ansichten entsprachen auf der anderen Seite des Thon-Tsalarian denen eines halsstarrigen, kaltblütigen Lords namens Quinath, der, so munkelte man, der Verlobte von Prinzessin Alhana Sternenwind war. Lord Quinath war während ihrer Abwesenheit der Führer der Silvanesti, und er und Porthios waren es gewesen, die die Insel zwischen den beiden kriegerischen Völkern aufgeteilt und dabei die dritte Rasse übergangen hatten.
Die Grenzbereiche wurden den Kaganesti zugewiesen, so wie man einem Hund befiehlt, nicht die Küche zu betreten. Die Kaganesti, bekannt für ihr launenhaftes Temperament, waren empört, ihr Land aufgeteilt vorzufinden. Das Jagen wurde bereits schwierig. Die Tiere, von denen das Überleben der Wild-Elfen abhing, waren fast ausgerottet worden, um die Flüchtlinge zu ernähren. Wie Laurana gesagt hatte, der Fluß der Toten konnte sich jeden Moment blutrot färben und seinen Namen auf tragische Weise ändern.
Und so fand sich die Stimme in einem Armeelager wieder.
Aber als er über diese Tatsache trauern wollte, ging sie in einer Vielzahl anderer trauriger Begebenheiten unter, so daß er schließlich abstumpfte. Nichts berührte ihn noch. Er zog sich in sein Schlammhaus zurück und überließ Porthios immer mehr Aufgaben.
Die Stimme war an dem Morgen, als die Gefährten in dem nun als Qualin-Mori bezeichneten Ort ankamen, früh aufgestanden. Er stand immer früh auf. Es lag nicht daran, daß er soviel zu tun hatte, sondern weil er bereits die meiste Zeit der Nacht die Decke angestarrt hatte. Er kritzelte gerade Notizen für das tägliche Treffen mit den Haushaltsvorständen – eine unbefriedigende Aufgabe, da die Haushaltsvorstände sich nur beklagten -, als er von draußen Tumult vernahm.
Ihn verließ der Mut. Was ist nun wieder? fragte er sich ängstlich. Ein- bis zweimal täglich wurde Alarm geschlagen. Porthios hatte wahrscheinlich irgendeinen hitzköpfigen jugendlichen Qualinesti oder Silvanesti festgenommen. Er schrieb weiter, hoffte, daß der Tumult verebben würde. Aber statt dessen nahm er zu, kam immer näher. Die Stimme vermutete nun, daß etwas Ernsthafteres passiert sein mußte. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er tun würde, wenn die Elfen wieder in den Krieg zögen.
Er ließ seinen Federkiel fallen, zog sich seine Amtsrobe über und wartete voller Furcht. Draußen hörte er die Wachen Haltung annehmen. Er hörte Porthios' Stimme die traditionellen Formeln um Einlaß sprechen. Die Stimme warf einen besorgten Blick zur Tür, die in seine Privatgemächer führte, befürchtete, daß seine Frau gestört werden könnte. Seit dem Aufbruch von Qualinesti kränkelte sie dauernd. Zitternd erhob er sich, nahm dann den ernsten und kalten Blick an, den er aufsetzte, sobald er seine Amtsrobe trug, und bat, hereinzukommen.
Eine der Wachen öffnete die Tür und wollte offenbar jemanden ankündigen. Aber bevor er sprechen konnte, hatte sich eine große schlanke Gestalt in einem schweren, mit einer Kapuze versehenen Fellumhang vorbeigeschoben und rannte auf die Stimme zu. Erschreckt sah er nur, daß die Gestalt mit Schwert und Bogen bewaffnet war, und wich beunruhigt zurück.
Die Gestalt warf ihre Kapuze zurück. Die Stimme sah honigfarbenes Haar um ein Frauengesicht fallen – ein selbst für Elfen bemerkenswert schönes Gesicht.
»Vater!« schrie Laurana, dann sank sie in seine Arme.
Die Rückkehr von Gilthanas, um den sein Volk wie um einen Toten getrauert hatte, war Anlaß der größten Feier, die von den Qualinesti seit der Nacht, bevor die Gefährten nach Sla-Mori aufgebrochen waren, abgehalten wurde.
Gilthanas hatte sich von seinen Verletzungen ausreichend erholt, um an den Festlichkeiten teilnehmen zu können, nur eine kleine Narbe an der Wange war zurückgeblieben. Laurana und ihre Freunde wunderten sich darüber, denn sie hatten den von Silvanesti-Elfen ausgeführten schrecklichen Schlag gesehen.
Aber als Laurana ihrem Vater davon erzählte, zuckte die Stimme nur mit den Schultern und meinte, daß die Kaganesti befreundete Druiden in den Wäldern hätten; wahrscheinlich hätten sie von ihnen viel über die Heilkünste gelernt. Dies enttäuschte Laurana, denn sie wußte von der Seltenheit der wahren Heilkräfte auf Krynn. Sie hätte sich gern mit Elistan darüber unterhalten, aber der Kleriker führte mit ihrem Vater stundenlang geheime Besprechungen. Die Stimme war bald sehr beeindruckt von den wahren klerischen Fähigkeiten dieses Mannes.
Laurana war erfreut, daß ihr Vater Elistan akzeptierte. Sie erinnerte sich daran, wie die Stimme Goldmond behandelt hatte, als sie nach Qualinesti kam und das Medaillon von Mishakal, Göttin der Heilkunst, getragen hatte. Aber Laurana vermißte ihren weisen Ratgeber. Obwohl sie überglücklich war, wieder zu Hause zu sein, wurde ihr klar, daß sich ihr Zuhause für sie verändert hatte und niemals mehr so sein würde wie früher.