Alle schienen sich zu freuen, sie zu sehen, aber man behandelte sie mit der gleichen Höflichkeit wie Derek, Sturm, Flint und Tolpan. Sie war eine Außenseiterin. Selbst das Verhalten ihrer Eltern war nach der ersten gefühlvollen Begrüßung kühl und distanziert geworden. Es hätte sie nicht so verletzt, wenn sie Gilthanas nicht so verhätschelt hätten. Warum der Unterschied? Laurana konnte es nicht verstehen. Ihr älterer Bruder Porthios sollte ihr die Augen öffnen.
Dieser Zwischenfall ereignete sich während der Feier.
»Du wirst feststellen, daß sich unser Leben hier sehr von dem in Qualinesti unterscheidet«, sagte ihr Vater zu ihrem Bruder an jenem Abend beim Festessen, das in einem riesigen, von den Kaganesti gebauten Holzsaal stattfand. »Aber du wirst dich schnell daran gewöhnen.« Dann wandte er sich an Laurana und meinte förmlich: »Ich würde mich freuen, wenn du an deinen alten Platz als meine Schreiberin zurückkehren würdest, aber ich weiß, daß du mit anderen Dingen in unserem Haushalt ausgelastet sein wirst.«
Laurana war bestürzt. Sie hatte natürlich nicht die Absicht gehabt zu bleiben, aber sie ärgerte sich, daß sie wieder eine Stelle einnehmen sollte, die der traditionellen Rolle einer Tochter im königlichen Haushalt entsprach. Sie ärgerte sich außerdem, daß ihr Vater sie offensichtlich ignoriert hatte, als sie mit ihm darüber reden wollte, wie die Kugel nach Sankrist zu bringen wäre.
»Stimme«, sagte sie langsam und versuchte, die Verärgerung aus ihrer Stimme zu halten. »Ich habe es dir bereits gesagt. Wir können nicht bleiben. Hast du mir und Elistan nicht zugehört? Wir haben die Kugel der Drachen entdeckt! Wir verfügen über Mittel, die Drachen zu kontrollieren und diesem Krieg ein Ende zu bereiten! Wir müssen die Kugel nach Sankrist bringen...«
»Halt den Mund, Laurana!« fuhr ihr Vater sie an und tauschte mit Porthios einen Blick.
Ihr Bruder musterte sie streng. »Du weißt nicht, was du sagst, Laurana. Die Kugel der Drachen ist wahrhaftig ein großer Gewinn und sollte hier nicht diskutiert werden. Außerdem kommt es nicht in Frage, die Kugel nach Sankrist zu bringen.«
»Entschuldigung, mein Herr«, sagte Derek und verbeugte sich, nachdem er sich erhoben hatte, »aber in dieser Angelegenheit habt Ihr nichts zu sagen. Die Kugel der Drachen gehört Euch nicht. Ich wurde von dem Kapitel der Ritter beauftragt, eine Kugel der Drachen zu finden. Ich war erfolgreich und beabsichtige, sie nach Sankrist zu bringen. Ihr habt kein Recht, mich aufzuhalten.«
»Haben wir nicht?« Die Augen der Stimme funkelten wütend.
»Mein Sohn, Gilthanas hat sie in dieses Land gebracht, das für uns Qualinesti unsere Exilheimat ist. Dadurch gehört sie rechtmäßig uns.«
»Ich habe sie nie für mich beansprucht, Vater«, sagte Gilthanas und errötete, als er die Blicke der Gefährten auf sich spürte. »Sie gehört nicht mir. Sie gehört uns allen...«
Porthios warf seinem jüngeren Bruder einen wütenden Blick zu. Gilthanas stammelte etwas, dann fiel er in Schweigen.
»Wenn jemand überhaupt einen Anspruch auf sie hat, dann ist es Laurana«, erhob Flint Feuerschmied seine Stimme, keineswegs von den funkelnden Blicken der Elfen eingeschüchtert. »Denn sie war es, die Feal-Tas getötet hat, den bösen Elfenmagier.«
»Wenn sie ihr gehört«, konterte die Stimme, »dann ist sie rechtmäßig meine. Denn Laurana ist nicht volljährig – was ihr gehört, gehört mir, denn ich bin ihr Vater. Das ist Elfengesetz und auch Zwergengesetz, wenn ich mich nicht irre.«
Flint errötete. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber Tolpan kam ihm zuvor.
»Ist das nicht merkwürdig?« bemerkte der Kender fröhlich, der den problematischen Inhalt der Unterhaltung nicht mitbekommen hatte. »Nach dem Kendergesetz, falls es ein Kendergesetz gibt, gehört alles allen.« (Das stimmte. Die nachlässige Einstellung der Kender zum Eigentum anderer bezog sich auch auf die Kender untereinander. In einem Kenderhaus blieb nie etwas lange, sofern es nicht am Boden festgenagelt war. Ein Nachbar würde bestimmt hereinspazieren, es bewundern und geistesabwesend damit von dannen ziehen. Ein Familienerbstück war für die Kender etwas, was länger als drei Wochen in einem Haus blieb.)
Danach sprach keiner mehr ein Wort. Flint trat Tolpan unter dem Tisch, und der Kender hielt beleidigt den Mund, bis er entdeckte, daß sein Nachbar, ein Elfenlord, vom Tisch gerufen wurde und seine Börse zurückließ. Das Durchwühlen der Besitztümer des Elfenlords hielt den Kender bis zum Ende des Essens glücklich beschäftigt.
Flint, der normalerweise auf Tolpan ein Auge hielt, bemerkte dies nicht bei all seinen anderen Sorgen. Offensichtlich würde es Schwierigkeiten geben. Derek war zornig. Nur der strenge Kodex der Ritter hielt ihn davon ab, den Tisch zu verlassen.
Laurana saß schweigend da und aß nichts. Ihr Gesicht war trotz ihrer gebräunten Haut blaß, und sie bohrte mit ihrer Gabel kleine Löcher in das feingewebte Tischtuch. Flint stieß Sturm an.
»Wir haben gedacht, die Kugel der Drachen aus Eismauer wegzuschaffen, wäre schwierig«, sagte der Zwerg mit gedämpfter Stimme. »Dort brauchten wir nur einem verrückten Zauberer und einigen Walroß-Menschen zu entkommen. Jetzt sind wir von drei Elfennationen eingekreist.«
»Wir müssen vernünftig mit ihnen reden«, sagte Sturm leise.
»Vernünftig!« schnaufte der Zwerg. »Zwei Steine hätten eine bessere Chance, vernünftig miteinander zu reden!«
Dies erwies sich als richtig. Auf Wunsch der Stimme blieben die Gefährten nach dem Essen am Tisch sitzen, während die anderen Elfen aufstanden und gingen. Gilthanas und seine Schwester saßen nebeneinander, ihre Gesichter waren angespannt und besorgt, als Derek vor der Stimme stand, um mit ihm »vernünftig zu reden«.
»Die Kugel gehört uns«, erklärte Derek kühl. »Ihr habt überhaupt keinen Anspruch darauf. Und sicher gehört sie auch nicht Eurer Tochter oder Eurem Sohn. Sie sind mit mir aus Höflichkeit gereist, nachdem ich sie aus dem zerstörten Tarsis gerettet hatte. Es war mir eine Ehre, sie in ihre Heimat begleitet zu haben, und ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Aber morgen werde ich nach Sankrist aufbrechen, und die Kugel nehme ich mit.«
Porthios erhob sich, um Derek ins Gesicht zu sehen. »Der Kender mag sagen, daß die Kugel der Drachen ihm gehört. Aber das tut nichts zur Sache.« Der Elfenlord sprach mit aalglatter, höflicher Stimme, die wie ein Messer durch die Nachtluft schnitt. »Die Kugel ist nun in Elfenhänden, und hier bleibt sie auch. Hältst du uns für so dumm, daß wir diese Kostbarkeit Menschen überlassen, damit sie noch mehr Probleme in diese Welt bringen?«
»Noch mehr Probleme?« Dereks Gesicht lief knallrot an.
»Sind dir überhaupt die jetzigen Probleme in der Welt bewußt? Die Drachen haben euch aus eurer Heimat vertrieben. Jetzt nähern sie sich unserer Heimat! Wir haben nicht die Absicht, wegzulaufen, so wie ihr. Wir werden bleiben und kämpfen! Diese Kugel könnte unsere einzige Hoffnung sein...«
»Du hast meine Erlaubnis, in deine Heimat zurückzukehren und dich zu einem Kartoffelpuffer verbrennen zu lassen, denn es interessiert mich nicht«, gab Porthios zurück. »Schließlich wart ihr Menschen es, die dieses uralte Böse wieder geweckt haben. Es paßt also, daß ihr es bekämpfen wollt! Die Drachenfürsten haben erhalten, was sie von uns wollten. Sie werden uns zweifellos in Frieden lassen. Hier, auf Ergod, wird die Kugel in Sicherheit sein.«
»Narr!« Derek schlug mit der Faust auf den Tisch. »Die Drachenfürsten haben nur einen einzigen Gedanken, und der ist, ganz Ansalon zu erobern. Das schließt auch diese erbärmliche Insel ein! Eine Zeitlang werdet ihr wohl hier sicher sein, aber wenn wir untergehen, werdet auch ihr untergehen!«