»Ja, ich weiß«, unterbrach Laurana ihn. Sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihrem Herzen, wenn ihr Vater erwähnt wurde. »Du mußt entscheiden, was wir tun sollen, Elistan. Silvara hat uns ihre Hilfe angeboten. Wir könnten mit der Kugel noch heute nacht verschwinden.«
»Wenn du das tun mußt, meine Liebe, dann solltest du keine Zeit mehr verschwenden«, sagte Elistan, der sich auf einen Stuhl setzte.
Laurana blinzelte. Sie streckte ihre Hände aus und ergriff seinen Arm. »Elistan, wie meinst du das? Du mußt mit uns kommen...«
»Nein, Laurana«, sagte Elistan und hielt ihre Hand fest mit seiner umschlossen. »Wenn du das vorhast, mußt du es allein machen. Ich habe Paladin um Hilfe gebeten, und ich muß hier bei den Elfen bleiben. Ich glaube, wenn ich bleibe, kann ich deinen Vater überzeugen, daß ich ein Kleriker der wahren Götter bin. Wenn ich gehe, würde er immer glauben, daß ich ein Scharlatan sei, wie mich dein Bruder bezeichnet hat.«
»Was ist mit der Kugel der Drachen?«
»Das liegt bei dir, Laurana. Die Elfen irren sich in dieser Angelegenheit. Hoffentlich werden sie im Laufe der Zeit ihren Fehler einsehen. Aber wir haben keine Jahrhunderte Zeit, um darüber zu streiten. Ich meine, du solltest die Kugel nach Sankrist bringen.«
»Ich?« keuchte Laurana. »Das kann ich nicht!«
»Meine Liebe«, sagte Elistan fest, »du mußt dir im klaren sein, daß die Last der Führerschaft auf dir ruht, wenn du diese Entscheidung triffst. Sturm und Derek sind in ihrem eigenen Streit verfangen, und außerdem sind sie Menschen. Du wirst dich mit Elfen auseinandersetzen müssen – mit deinem Volk und den Kaganesti. Gilthanas ergreift Partei für deinen Vater. Du allein hast eine Chance, erfolgreich zu sein.«
»Aber ich bin nicht fähig...«
»Du bist fähiger, als du dir eingestehst, Laurana. Vielleicht waren deine ganzen Erfahrungen, die du bis jetzt gemacht hast, eine Vorbereitung auf diese Sache. Du darfst nicht mehr Zeit verschwenden. Leb wohl, meine Liebe.« Elistan erhob sich und legte seine Hand auf ihren Kopf. »Soll Paladins Segen – und meiner – mit dir gehen.«
»Elistan!« flüsterte Laurana, aber der Kleriker war gegangen.
Silvara schloß leise die Tür.
Laurana sank auf ihr Lager zurück und versuchte zu denken.
Elistan hatte natürlich recht. Die Kugel der Drachen durfte nicht hierbleiben. Und wenn wir fliehen wollen, muß es heute nacht geschehen. Aber es geht alles so schnell! Und alles hängt von mir ab! Kann ich Silvara vertrauen? Aber wozu diese Frage, sie ist die einzige, die uns führen kann. Dann muß ich jetzt nur noch die Kugel holen, an die Lanze kommen und meine Freunde befreien. Ich weiß, wie ich an die Kugel und die Lanze komme. Aber meine Freunde...
Laurana wußte plötzlich, was sie tun würde. Ihr wurde klar, daß der Plan in ihr schon gereift war, als sie mit Elistan geredet hatte.
Damit lege ich mich fest, dachte sie. Es wird keine Rückkehr mehr geben. Die Kugel der Drachen stehlen, in der Nacht in fremdes, feindliches Land fliehen. Und was ist mit Gilthanas?
Wir haben gemeinsam so viel durchgemacht. Aber er wird über die Idee, mit der Kugel zu fliehen, entsetzt sein. Und falls er sich entscheidet, nicht mit mir zu gehen, würde er uns verraten? Laurana schloß die Augen. Müde legte sie ihren Kopf auf ihre Knie. Tanis, dachte sie, wo bist du? Was soll ich tun?
Warum liegt es bei mir? Ich will das nicht.
Und als sie so saß, erinnerte sich Laurana an die Erschöpfung und die Trauer in Tanis' Gesicht. Vielleicht fragte er sich die gleichen Dinge. Die ganze Zeit über dachte ich, er wäre so stark, vielleicht ist er in Wirklichkeit verloren und verängstigt, so wie ich. Sicher fühlt er sich von seinem Volk im Stich gelassen. Und wir hängten uns an ihn, ob er es wollte oder nicht.
Aber er nahm es an. Er tat das, von dem er glaubte, daß es richtig sei.
Und so muß ich es auch tun.
Energisch weigerte sie sich, weiterzudenken, hob den Kopf und bat Silvara, näher zu kommen.
Sturm, der nicht schlafen konnte, schritt in dem primitiven Raum auf und ab, den man ihnen zur Verfügung gestellt hatte.
Der Zwerg lag auf einem Lager ausgestreckt und schnarchte laut. Tolpan lag mitten im Raum wie ein Häufchen Elend zusammengerollt, sein Fuß war mit dem Pfosten der Lagerstatt durch eine Kette verbunden. Sturm seufzte. In was für Schwierigkeiten würden sie noch geraten?
Der Abend hatte schlecht begonnen und war zur Katastrophe ausgewachsen. Nachdem Laurana ohnmächtig geworden war, hatte Sturm nur noch eins tun können, nämlich den wütenden Zwerg zurückzuhalten. Flint schwor, Porthios die Gliedmaßen auszureißen. Derek erklärte, daß er sich als Gefangener betrachte, der vom Feind festgehalten würde, und daß es deshalb seine Pflicht wäre, zu versuchen zu fliehen; dann würde er mit den Rittern zurückkehren und die Kugel der Drachen mit Gewalt zurückerobern. Derek wurde unverzüglich von den Wachen weggebracht. Gerade als Sturm Flint beruhigt hatte, erschien ein Elfenlord aus dem Nichts und beschuldigte Tolpan, seine Börse gestohlen zu haben.
Jetzt standen sie unter doppelter Wache, »Gäste« der Stimme der Sonnen.
»Mußt du so herumlaufen?« fragte Derek kühl.
»Kannst du deswegen nicht schlafen?« schnappte Sturm.
»Natürlich nicht. Nur Dummköpfe können unter diesen Umständen schlafen. Du störst meine Konzen...«
»Pssst!« machte Sturm und hob warnend die Hand.
Derek verstummte sofort. Der Ritter machte ein Zeichen. Der ältere Ritter trat zu Sturm, der zur Decke hochstarrte. Das Holzhaus war rechteckig gebaut, mit einer Tür, zwei Fenstern und einer Feuerstelle. Ein Loch im Dach sorgte für Lüftung.
Durch dieses Loch hörte Sturm das merkwürdige Geräusch, auf das seine Aufmerksamkeit gelenkt worden war. Es war ein scharrendes, kratzendes Geräusch. Die Holzbalken in der Dekke quietschten, als ob etwas Schweres über sie kriechen würde.
»Irgendein wildes Tier«, murmelte Derek. »Und wir sind ohne Waffen!«
»Nein«, sagte Sturm, der aufmerksam lauschte. »Kein Knurren. Es bewegt sich zu leise, als ob es nicht gehört oder gesehen werden will. Was machen denn die Wachen draußen?«
Derek ging zum Fenster und spähte hinaus. »Sie sitzen an einem Feuer. Zwei schlafen. Sie sind nicht besonders um uns besorgt, nicht wahr?« fragte er bitter.
»Warum sollten sie auch?« gab Sturm zurück. Seine Augen blieben weiter zur Decke gerichtet. »Einige tausend Elfen werden bei einem Wispern bereit sein. Was...«
Sturm wich beunruhigt zurück, als die Sterne, die er durch das Loch hatte sehen können, plötzlich von einer dunklen, formlosen Masse ausgelöscht wurden. Sturm faßte schnell nach unten und riß einen Holzklotz aus dem glühenden Feuer.
»Sturm! Sturm Feuerklinge!« sagte die formlose Masse.
Sturm zuckte zusammen, versuchte sich an die Stimme zu erinnern. Sie kam ihm vertraut vor. Gedanken an Solace überfluteten seine Gedanken. »Theros!« keuchte er. »Theros Eisenfeld! Was machst du hier? Als ich dich das letzte Mal sah, hast du im Elfenkönigreich fast im Sterben gelegen.«
Der riesige Schmied aus Solace kämpfte sich durch die Öffnung in der Decke und riß einen Teil des Daches mit sich. Er landete hart, weckte den Zwerg, der sich aufsetzte und verschlafen auf die Erscheinung mitten im Zimmer starrte.
»Was...«, fing der Zwerg an und suchte seine Streitaxt, die jedoch nicht an seiner Seite lag.
»Pssst!« befahl der Schmied. »Keine Zeit für Fragen. Lady Laurana schickt mich, um euch zu befreien. Wir treffen sie im Wald hinter dem Lager. Beeilt euch! Uns bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung, und wir müssen bis dahin den Fluß überquert haben.« Theros ging zu Tolpan, der erfolglos versuchte, sich selbst zu befreien. »Nun, Meisterdieb, ich sehe, jemand hat dich zum Schluß doch noch gefaßt.«
»Ich bin kein Dieb!« entgegnete Tolpan beleidigt. »Das weißt du ganz genau, Theros. Diese Börse wurde mir untergeschoben...«
Der Schmied kicherte. Er nahm die Kette in seine Hände, zerrte an ihr, und sie zerbrach. Tolpan jedoch bemerkte das nicht. Er starrte auf die Arme des Schmieds. Der linke Arm war ein staubiges Schwarz, die Hautfarbe des Schmieds. Aber der andere Arm, der rechte, war aus hellem, glänzendem Silber!