Die Gefährten folgten dem großen, dunkelhäutigen Schmied zum Rand des schlafenden Elfenlagers und bewegten sich so leise, wie es für zwei in Rüstungen steckende Ritter und einen Zwerg nur möglich war. Für Laurana waren sie so laut wie eine Hochzeitsgesellschaft. Sie biß sich auf die Lippen, um nichts zu sagen, während die Ritter in der Dunkelheit klirrten und klapperten, Flint über jede Baumwurzel stolperte und durch jede Pfütze platschte.
Aber die Elfen lagen eingehüllt in ihre Selbstzufriedenheit wie unter einer weichen Decke. Sie waren der Gefahr entkommen. Alle fühlten sich in Sicherheit. Und so schliefen sie, als die Gefährten in die Nacht flohen.
Silvara, die die Kugel der Drachen trug, fühlte das kalte Kristall warm werden, als sie es eng an ihren Körper hielt, fühlte es sich mit Leben anfüllen und pulsieren.
»Was soll ich nur tun?« flüsterte sie geistesabwesend in Kaganesti, während sie wie blind durch die Dunkelheit stolperte.
»Er ist zu mir gekommen! Warum? Ich verstehe es nicht! Was soll ich nur tun?«
16
Fluß der Toten. Die Legende vom silbernen Drachen
Die Nacht war still und kalt. Gewitterwolken verbargen das Licht der Monde und der Sterne. Es kam kein Regen auf, kein Wind, nur ein bedrückendes Gefühl des Wartens. Laurana spürte, daß die ganze Natur wachsam, aufmerksam, ängstlich war. Und hinter ihr schliefen die Elfen, in das Netz ihrer eigenen nichtigen Ängste und Haßgefühle eingehüllt. Welch schreckliche geflügelte Kreatur würde aus dieser Schutzhülle hervorbrechen, fragte sie sich.
Die Gefährten hatten wenig Schwierigkeiten, an den Elfenwachen vorbeizuschlüpfen. Die Wachen, die Theros erkannten, erhoben sich und plauderten mit ihm, während die anderen durch den Wald schleichen konnten. Sie erreichten den Fluß im Morgengrauen.
»Und wie kommen wir jetzt rüber?« fragte der Zwerg und starrte düster auf das Wasser. »Ich halte nicht viel von Booten, aber sie sind besser als zu schwimmen.«
»Das dürfte kein Problem sein.« Theros wandte sich an Laurana und sagte: »Frag deine kleine Freundin«, und nickte in Silvaras Richtung.
Überrascht blickten Laurana und die anderen die Wild-Elfe an. Silvara errötete vor Verlegenheit über die vielen Augen, die auf ihr ruhten, und senkte ihren Kopf. »Kargai Sargaron hat recht«, murmelte sie. »Wartet hier im Schatten der Bäume.«
Sie verließ die Gefährten und rannte leichtfüßig zum Flußufer, mit einer wilden, freien Anmut, bezaubernd zu beobachten. Laurana bemerkte Gilthanas' Blick, der auf der Wild-Elfe ruhte.
Silvara legte ihre Finger an die Lippen und ahmte den Ruf eines Vogels nach. Sie wartete einen Moment, dann wiederholte sie den Ton dreimal. Nach kurzer Zeit wurde ihr Ruf beantwortet und schallte vom gegenüberliegenden Ufer des Flusses über das Wasser.
Zufrieden kehrte Silvara zur Gruppe zurück. Laurana sah, daß die Augen des Mädchens an Gilthanas hingen, obwohl sie mit Theros sprach. Als Silvara Gilthanas' Blick bemerkte, errötete sie und sah zu Theros.
»Kargai Sargaron«, sagte sie hastig, »mein Volk kommt, aber du solltest dabei sein, wenn ich ihnen die Situation erkläre.«
Silvaras blaue Augen – Laurana konnte sie jetzt deutlich im Morgenlicht erkennen – wanderten zu Sturm und Derek. Die Wild-Elfe schüttelte leicht den Kopf. »Sie werden nicht erfreut sein, diese Menschen in unserem Land vorzufinden, Elfen leider auch nicht«, sagte sie mit einem entschuldigenden Blick zu Laurana und Gilthanas.
»Ich werde mit ihnen reden«, sagte Theros. Er blickte über den See und machte Zeichen. »Da kommen sie.«
Laurana sah zwei schwarze Umrisse auf dem himmelgrauen Fluß gleiten. Die Kaganesti müssen dort ständig Wache halten, wurde ihr klar. Sie haben Silvaras Ruf erkannt. Merkwürdig daß ein Sklave so viel Freiheit hat. Wenn Flucht so einfach war, warum blieb Silvara dann bei den Silvanesti? Es ergibt keinen Sinn – oder Flucht war nicht ihr Ziel.
»Was bedeutet Kargai Sargaron?« fragte sie Theros.
»Der mit dem Silberarm«, antwortete Theros lächelnd.
»Sie scheinen dir zu vertrauen.«
»Ja. Ich erzählte dir, daß ich einen Großteil meiner Zeit mit Wandern verbracht habe. Das ist nicht ganz richtig. Ich habe viel Zeit bei Silvaras Volk verbracht.« Das staubige Gesicht des Schmieds verzog sich finster. »Ich meine es nicht respektlos, Elfenlady, aber du hast keine Vorstellung, was für Härten dein Volk über diese Wilden bringt: Sie erlegen sein Wild oder vertreiben es, verderben es mit Gold, Silber und Stahl.« Theros seufzte wütend. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich zeigte ihnen, wie man Jagdwaffen und Werkzeug schmiedet. Aber der Winter wird lang und hart werden, fürchte ich. Bereits jetzt ist das Wild knapp. Wenn es darum geht, entweder zu verhungern oder die anderen Elfenrassen zu beseitigen...«
»Wenn ich hierbliebe«, murmelte Laurana, »könnte ich vielleicht helfen...« Dann wurde ihr klar, daß das lächerlich war.
Was konnte sie schon tun? Nicht einmal von ihrem eigenen Volk wurde sie akzeptiert!
»Du kannst nicht gleichzeitig überall sein«, sagte Sturm.
»Die Elfen müssen ihre eigenen Probleme lösen, Laurana. Du machst das Richtige.«
»Ich weiß«, erwiderte sie seufzend. Sie drehte ihren Kopf und sah zurück auf das Qualinesti-Lager. »Ich war genauso wie sie, Sturm«, sagte sie bebend. »Meine wunderschöne, winzige Welt drehte sich so lange Zeit um mich, daß ich dachte, ich wäre der Mittelpunkt des Universums. Ich lief Tanis hinterher, weil ich mir sicher war, daß ich ihn dazu bringen könnte, mich zu lieben. Warum sollte es nicht so sein? Alle taten es. Und dann entdeckte ich, daß sich die Welt nicht um mich drehte. Sie kümmerte sich überhaupt nicht um mich! Ich sah Elend und Tod. Ich war gezwungen zu töten«, sie starrte auf ihre Hände, »oder ich wäre getötet worden. Ich habe wahre Liebe gesehen. So wie bei Flußwind und Goldmond, Liebe, die bereit ist, alles zu opfern – selbst das Leben. Ich fühlte mich kleinlich und winzig. Und so erscheint mir jetzt mein Volk. Kleinlich und winzig. Ich habe früher geglaubt, sie wären vollkommen, aber jetzt verstehe ich, wie Tanis sich gefühlt haben muß – und warum er weggegangen ist.«
Die Boote der Kaganesti hatten das Ufer erreicht. Silvara und Theros gingen zu ihnen, um mit den Elfen zu reden. Auf ein Zeichen von Theros hin traten die Gefährten aus den Schatten der Bäume. Zuerst schien keine Hoffnung zu bestehen. Die Elfen redeten in ihrem seltsamen ungehobelten Dialekt, dem Laurana nur schwer folgen konnte. Offensichtlich weigerten sie sich strikt, etwas für die Gruppe zu tun.
Dann ertönten Signalhörner hinter ihnen aus den Wäldern.
Gilthanas und Laurana sahen sich besorgt an. Theros blickte zurück und zeigte mit seinem Silberfinger drängend auf die Gruppe, dann legte er seine Hand an seine Brust – anscheinend bot er an, für die Gefährten geradezustehen. Wieder erklangen die Hörner. Silvara fügte ihre eigenen Schwüre hinzu. Schließlich erklärten sich die Kaganesti einverstanden, obwohl sie keineswegs erfreut schienen.
Die Gefährten eilten zum Wasser, allen war klar, daß ihr Verschwinden bemerkt worden und die Verfolgung im Gange war.
Einer nach dem anderen trat vorsichtig in die Boote; es waren ausgehöhlte Baumstämme. Alle, mit Ausnahme von Flint, der stöhnte und sich auf den Boden warf, seinen Kopf schüttelte und in der Zwergensprache fluchte. Sturm beäugte ihn sorgenvoll, befürchtete eine Wiederholung des Vorfalls vom Krystalmir-See, als der Zwerg glattweg abgelehnt hatte, ein Boot zu besteigen. Es war jedoch Tolpan, der den murrenden Zwerg zog und schließlich auf die Füße brachte.
»Wir machen aus dir noch einen Matrosen«, sagte der Kender fröhlich und schlug Flint mit seinem Hupak in den Rücken.
»Das werdet ihr nicht! Und hör auf, mich mit diesem Ding zu schlagen!« schnaufte der Zwerg. Als er das Ufer erreicht hatte, hielt er inne und fummelte nervös an einem Stück Holz. Tolpan hüpfte in ein Boot, stand erwartungsvoll da und streckte ihm eine Hand entgegen.