»Zum Henker, Flint, komm ins Boot!« befahl Theros.
»Sag mir nur eins«, sagte der Zwerg und schluckte. »Warum nennen sie ihn den Fluß der Toten?«
»Das wirst du bald sehen«, grunzte Theros. Er streckte seine starke, schwarze Hand aus und riß ihn vom Ufer und ließ ihn wie einen Kartoffelsack ins Boot fallen. »Wir können los«, sagte der Schmied zu den Wild-Elfen.
Das Holzboot wurde von der Strömung erfaßt und steuerte geschwind nach Westen. Bald waren die von Bäumen gesäumten Ufer verschwunden, und die Gefährten kauerten sich in die Boote, als der kalte Wind ihre Gesichter durchpeitschte und ihnen den Atem raubte. Entlang der südlichen Küste, an der die Qualinesti lebten, machten sie kein Lebenszeichen aus. Aber Laurana konnte flüchtig schattenartige Gestalten an den Bäumen an der nördlichen Küste erkennen. Ihr wurde klar, daß die Kaganesti nicht so naiv waren – sie beobachteten ihre Vettern ganz genau. Sie fragte sich, wie viele Kaganesti, die als Sklaven lebten, in Wirklichkeit Kundschafter waren. Ihre Augen gingen zu Silvara.
Die Strömung trieb sie schnell zu einer Flußgabelung, an der zwei Ströme aufeinandertrafen. Einer kam aus dem Norden, der andere – der Fluß, auf dem sie fuhren – aus dem Osten. Beide verschmolzen zu einem riesigen Strom, der im Süden in das Meer mündete. Plötzlich machte Theros ein Zeichen.
»Dort, Zwerg, ist deine Antwort«, sagte er feierlich.
Auf dem anderen Flußzweig trieb ein Boot von Norden heran.
Zuerst dachten sie, es hätte sich aus seiner Vertäuung gelöst, denn sie konnten niemanden sehen. Dann erkannten sie jedoch, daß es zu tief im Wasser lag, um leer zu sein. Die Wild-Elfen verlangsamten ihre Boote, ruderten sie in seichtes Wasser, hielten sie fest und senkten ihre Köpfe in stummer Andacht.
Und dann wußte Laurana Bescheid.
»Ein Bestattungsboot«, murmelte sie.
»Ja«, bestätigte Theros mit traurigen Augen. Das Boot trieb vorbei. Im Inneren konnten sie den Körper eines jungen Wild-Elfen erkennen, nach seiner groben Lederrüstung zu urteilen ein Krieger. Seine Hände waren über seine Brust gelegt und hielten ein eisernes Schwert umklammert. Ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen lagen an seiner Seite.
»Jetzt weißt du, warum er Thon-Tsalarian, der Fluß der Toten, genannt wird«, sagte Silvara mit ihrer leisen melodischen Stimme. »Seit Jahrhunderten gibt mein Volk die Toten dem Meer zurück, aus dem wir gekommen sind. Dieser uralte Brauch meines Volkes wurde ein bitterer Streitpunkt zwischen den Kaganesti und unseren Vettern.« Ihre Augen wanderten zu Gilthanas. »Dein Volk betrachtet es als eine Entweihung des Flusses. Sie wollen uns zwingen, damit aufzuhören.«
»Eines Tages wird der Körper, der auf dem Fluß treibt, ein Qualinesti oder ein Silvanesti sein, mit einem Kaganesti-Pfeil in der Brust«, sagte Theros voraus. »Dann wird es Krieg geben.«
»Ich denke, alle Elfen werden einem tödlicheren Feind gegenüberstehen«, sagte Sturm kopfschüttelnd. »Seht!« zeigte er.
Zu Füßen des toten Kriegers lag ein Schild, der Schild eines Feindes, durch dessen Hand er gestorben war. Als Laurana das schreckliche Symbol auf dem zerbeulten Schild wiedererkannte, hielt sie den Atem an.
»Drakonier!«
Die Reise auf dem Thon-Tsalarian war lang und mühsam, denn die Strömung war schnell und stark. Sogar Tolpan mußte beim Paddeln helfen, verlor aber prompt die Paddel und wäre beinahe ins Wasser gefallen bei dem Versuch, sie wiederzubekommen. Derek konnte Tolpan gerade noch am Gürtel packen und ihn wieder zurückziehen, während die Kaganesti in Zeichensprache zu verstehen gaben, daß sie ihn aus dem Boot werfen würden, wenn er noch mehr Ärger verursachen würde.
Tolpan begann sich bald zu langweilen, blickte ins Wasser und hoffte, einen Fisch zu sehen.
»Wie komisch!« sagte der Kender plötzlich. Er steckte seine kleine Hand ins Wasser. »Seht mal«, sagte er aufgeregt. Seine Hand war mit feinem Silber überzogen und glitzerte im Morgenlicht. »Das Wasser glitzert! Sieh mal, Flint«, rief er dem Zwerg im anderen Boot zu. »Sieh mal ins Wasser...«
»Das werde ich nicht«, sagte der Zwerg mit klappernden Zähnen.
»Du hast recht, Kenderken«, sagte Silvara lächelnd. »Tatsächlich nannten die Silvanesti den Fluß Thon-Sargon, das bedeutet Silberstraße. Es ist wirklich schade, daß das Wetter gerade ungünstig ist. Wenn der Silbermond voll ist, verwandelt sich der Fluß in geschmolzenes Silber und ist wirklich wunderschön.«
»Warum? Was ist die Ursache?« fragte der Kender und studierte voller Entzücken seine glänzende Hand.
»Niemand weiß es, obwohl es bei meinem Volk eine Legende gibt...« Silvara verstummte abrupt und errötete.
»Was für eine Legende?« fragte Gilthanas. Der Elfenlord saß Silvara gegenüber. Sein Paddeln war nicht viel besser als das von Flint, da Gilthanas mehr Interesse an Silvaras Gesicht als an seiner Arbeit zeigte. Immer wenn Silvara aufsah, starrte er sie an. Sie wurde immer verwirrter und nervöser.
»Es wird euch sicherlich nicht interessieren«, sagte sie und starrte über das silbergraue Wasser, um Gilthanas' Blick auszuweichen. »Es ist eine Kindergeschichte über Huma...«
»Huma!« rief Sturm, der hinter Gilthanas saß, seine schnellen, kraftvollen Bewegungen machten die Unfähigkeit des Elfen und des Zwergen wett. »Erzähl uns eure Legende über Huma, Wild-Elfe.«
»Ja, erzähl uns eure Legende«, wiederholte Gilthanas lächelnd.
»Na schön«, sagte sie errötend. Sie räusperte sich und begann: »Wie die Kaganesti sagen, reiste Huma in den letzten Tagen der schrecklichen Drachenkriege durch das Land und suchte bei den Leuten Hilfe. Aber ihm wurde zu seinem Bedauern klar, daß er machtlos war und die Verwüstungen und Zerstörungen durch die Drachen nicht aufhalten konnte. Er betete um eine Antwort zu den Göttern.« Silvara warf Sturm einen kurzen Blick zu, der andächtig nickte.
»Das stimmt«, sagte der Ritter. »Und Paladin erhörte sein Gebet und sandte ihm den weißen Hirsch. Aber niemand weiß, wohin er ihn führte.«
»Mein Volk weiß es«, sagte Silvara leise, »weil der Hirsch Huma nach vielen Prüfungen und Gefahren in ein ruhiges Wäldchen hier in das Land Ergod führte. In diesem Wäldchen traf er eine Frau, wunderschön und tugendhaft, die seinen Schmerz linderte. Huma verliebte sich in sie und sie sich in ihn. Aber viele Monate lang erhörte sie seine Liebesschwüre nicht. Schließlich erwiderte sie Humas Liebe, nicht mehr fähig, das eigene brennende Feuer zu verneinen. Ihr Glück war wie der silberne Mondschein in einer Nacht schrecklicher Dunkelheit.«
Silvara verstummte einen Moment, ihre Augen starrten in die Ferne. Geistesabwesend strich sie über das grobe Gewebe des Umhangs, in dem die Kugel der Drachen zu ihren Füßen lag.
»Fahr fort«, drängte Gilthanas. Der Elfenlord hatte aufgehört so zu tun, als würde er paddeln, und saß einfach nur da, verzaubert von Silvaras wunderschönen Augen, von ihrer wohlklingenden Stimme.
Silvara seufzte. Sie ließ das Gewebe aus ihren Händen gleiten und starrte über das Wasser. »Ihre Freude war nur von kurzer Dauer«, sagte sie leise. »Denn die Frau hatte ein schreckliches Geheimnis – sie war nicht als Frau, sondern als Drache geboren. Nur durch ihre Magie konnte sie die Gestalt einer Frau annehmen. Aber sie konnte Huma nicht länger anlügen. Sie liebte ihn zu sehr. Ängstlich offenbarte sie Huma, wer sie wirklich war und erschien vor ihm eines Nachts in ihrer wahren Gestalt – der Gestalt eines silbernen Drachen. Sie hoffte, er würde sie hassen, sie vernichten, denn ihr Schmerz war so stark, daß sie nicht länger leben wollte. Aber als der Ritter auf das strahlende, wunderbare Wesen blickte, sah er in seinen Augen den edlen Geist der Frau, die er liebte. Ihre Magie verwandelte sie wieder in die Gestalt einer Frau, und sie betete zu Paladin, daß er ihr die menschliche Gestalt für immer geben würde. Sie wollte ihre Magie und die lange Lebensspanne der Drachen aufgeben, um mit Huma zusammenzuleben.«