Wenn jemand erschöpft fragte, warum sie sich so beeilen mußten, antwortete sie nur: »Sie sind in der Nähe. Sie sind sehr nahe.«
Alle nahmen an, sie meinte die Elfen, obwohl Laurana schon seit langem das Gefühl hatte, daß sie nicht mehr von dunklen Schatten verfolgt wurden.
Die Dämmerung brach an, aber das Licht filterte durch solch einen dichten Nebel, daß Tolpan dachte, er könnte eine Handvoll davon in einem seiner Beutel verstauen. Die Gefährten gingen dicht nebeneinander, hielten sich sogar an den Händen, um sich nicht zu verlieren. Es wurde wärmer. Sie zogen ihre nassen und schweren Umhänge aus, als sie auf einen Pfad stolperten, der sich unter ihren Füßen aus dem Nebel heraus zu materialisieren schien. Silvara ging vorn. Das blasse Licht, das von ihrem silbernen Haar ausging, war ihr einziger Anhaltspunkt.
Schließlich wurde der Boden unter ihnen eben, die Bäume lichteten sich, und sie wanderten auf weichem Gras. Obwohl keiner im grauen Nebel mehr als ein paar Meter weit sehen konnte, hatten sie den Eindruck, sich auf einer weiten Lichtung zu befinden.
»Das ist das Nebelhafen-Tal«, erklärte Silvara auf ihre Fragen. »Vor vielen Jahren, vor der Umwälzung, war es einer der schönsten Plätze auf Krynn... so sagt es mein Volk.«
»Er könnte immer noch schön sein«, murrte Flint, »wenn wir nur etwas durch diesen verdammten Nebel sehen würden.«
»Nein«, sagte Silvara traurig. »Wie so vieles in dieser Welt ist auch die Schönheit von Nebelhafen verschwunden. Einst schwebte die Festung von Nebelhafen wie eine Wolke über dem Nebel. Die aufgehende Sonne färbte den Nebel rosa, zum Mittag war er verschwunden, so daß die emporragenden Türme der Festung zu sehen waren. Am Abend kehrte der Nebel zurück, um die Festung wie eine Decke einzuhüllen. In den Nächten leuchteten der silberne und der rote Mond über dem Nebel mit einem schimmernden Licht. Pilger kamen aus allen Teilen Krynns...«, Silvara brach plötzlich ab. »Wir werden heute nacht hier ein Lager aufschlagen.«
»Was für Pilger?« fragte Laurana, während sie ihr Gepäck fallen ließ.
Silvara zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und wandte ihr Gesicht ab. »Es ist nur eine Legende meines Volkes. Vielleicht ist es nicht einmal wahr. Schließlich kommt heute niemand mehr her.«
Sie lügt, dachte Laurana, aber sie sagte nichts mehr. Sie war zu müde. Und selbst Silvaras leise, sanfte Stimme schien unnatürlich laut und kratzend in der unheimlichen Stille. Die Gefährten breiteten schweigend ihre Decken aus. Sie knabberten schweigend ohne Appetit an den Trockenfrüchten. Selbst der Kender war still. Der Nebel war bedrückend, lastete schwer auf ihnen. Das einzige Geräusch war ein ständiges Tröpfeln von Wasser auf den belaubten Boden.
»Schlaft jetzt«, sagte Silvara leise, als sie ihre Decke neben Gilthanas' Lager ausbreitete, »denn wenn der Silbermond den Zenit erreicht hat, müssen wir aufbrechen.«
»Was für einen Unterschied macht das noch aus?« Der Kender gähnte. »Wir können sowieso nichts sehen.«
»Trotzdem müssen wir weiter. Ich werde dich wecken.«
»Wenn wir von Sankrist zurückkehren – nach dem Treffen von Weißstein -, könnten wir heiraten«, sagte Gilthanas leise zu Silvara, als sie zusammen unter seiner Decke lagen.
Das Mädchen versteifte sich in seinen Armen. Er spürte ihr weiches Haar an seiner Wange reiben. Aber sie antwortete nicht.
»Mach dir keine Sorgen wegen meines Vaters«, sagte Gilthanas lächelnd und streichelte das wunderschöne Haar, das selbst in der Dunkelheit glänzte. »Er wird eine Zeitlang streng und wütend sein, aber ich bin der jüngste Sohn – niemand kümmert sich darum, was aus mir wird. Porthios wird toben und lärmen. Aber den ignorieren wir einfach. Wir brauchen auch nicht bei meinem Volk zu leben. Ich weiß zwar nicht, wie ich mit deinem Volk zurechtkomme, aber ich kann es lernen. Ich bin ein guter Bogenschütze. Und es würde mir gefallen, daß unsere Kinder in der Wildnis aufwachsen, frei und glücklich... was... Silvara – warum weinst du?«
Gilthanas hielt sie eng an sich gedrückt, als sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub und bitterlich schluchzte. »Nun, nun«, flüsterte er tröstend und lächelte in der Dunkelheit. Frauen sind schon komische Wesen. Er fragte sich, was er Falsches gesagt hatte. »Pssst, Silvara«, murmelte er. »Es wird alles gut werden.« Und dann schlief Gilthanas ein und träumte von silberhaarigen Kindern, die durch grüne Wälder liefen.
»Es ist Zeit. Wir müssen aufbrechen.«
Laurana spürte eine Hand an ihrer Schulter. Erschrocken erwachte sie aus einem verschwommenen, beängstigenden Traum, an den sie sich nicht erinnerte, und fand die Wild-Elfe vor sich knien.
»Ich wecke die anderen«, sagte Silvara.
Laurana, die müder war, als wenn sie gar nicht geschlafen hätte, packte mechanisch ihre Sachen zusammen und wartete zitternd in der Dunkelheit. Sie hörte den Zwerg aufstöhnen. Die feuchte Luft ließ seine Gelenke schmerzen. Diese Reise war hart und anstrengend für Flint, wurde Laurana klar. Trotz allem war er schon fast hundertfünfzig Jahre alt. Ein beachtliches Alter für einen Zwerg. Sein Gesicht hatte auf der Reise an Farbe verloren. Seine Lippen, kaum sichtbar unter dem Bart, hatten eine bläuliche Färbung, und gelegentlich preßte er seine Hand an die Brust. Aber trotzdem bestand er felsenfest darauf, daß es ihm gut ginge.
»Alles fertig!« schrie Tolpan. Seine schrille Stimme hallte unheimlich im Nebel wider, und er hatte das deutliche Gefühl, daß er etwas gestört hätte. »Tut mir leid«, sagte er unterwürfig.
»Na so was!« murmelte er zu Flint. »Es ist wie in einem Tempel.«
»Halt einfach den Mund!« schnappte der Zwerg.
Eine Fackel flammte auf. Die Gefährten zuckten bei dem plötzlichen blendenden Licht auf, das Silvara hielt.
»Wir brauchen Licht«, sagte sie, bevor jemand protestieren konnte. »Fürchtet euch nicht. Das Tal ist vollkommen abgeriegelt. Vor langer Zeit gab es zwei Zugänge: Einer führte zu menschlichen Gebieten, wo die Ritter einen Außenposten halten, der andere nach Osten in das Land der Oger. Beide Zugänge sind während der Umwälzung verlorengegangen. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Ich habe euch auf einen Weg geführt, der nur mir bekannt ist.«
»Und deinem Volk«, erinnerte Laurana sie scharf.
»Ja – meinem Volk...«, sagte Silvara, und Laurana war überrascht, das Mädchen erbleichen zu sehen.
»Wohin bringst du uns?« fragte Laurana.
»Das wirst du sehen. In einer Stunde werden wir am Ziel sein.«
Die Gefährten blickten sich an, dann zu Laurana.
Verdammt, dachte sie. »Seht mich nicht so erwartungsvoll an!« sagte sie wütend. »Was wollt ihr von mir? Hier stehenbleiben, verloren im Nebel...«
»Ich will euch nicht verraten!« murmelte Silvara verzweifelt.
»Bitte vertraut mir – wenigstens ein wenig.«
»Geh voran«, sagte Laurana müde. »Wir folgen.«
Der Nebel schien sie noch dichter einzuhüllen, so daß schließlich nur noch das Licht von Silvaras Fackel zu erkennen war.
Keiner hatte eine Vorstellung, in welche Richtung sie gingen.
Die Landschaft veränderte sich nicht. Sie wanderten durch hohes Gras. Hier wuchsen keine Bäume. Gelegentlich ragte ein riesiger Findling aus der Dunkelheit hervor, aber das war auch alles. Es gab kein Anzeichen von Vögeln und Tieren. Ein Gefühl von Dringlichkeit machte sich zunehmend bemerkbar, das alle spürten, und sie beschleunigten ihre Schritte.
Dann hielt Silvara plötzlich ohne Warnung an.
»Wir sind da«, sagte sie und hielt die Fackel hoch.
Das Licht der Fackel durchbrach den Nebel. Sie konnten alle etwas Schattenhaftes vor sich erkennen.
Silvara ging näher heran. Sie folgten ihr neugierig und ängstlich.
Dann wurde die Stille der Nacht durch blubbernde Geräusche, wie kochendes Wasser in einem riesigen Kessel, durchbrochen. Der Nebel wurde wieder dichter, die Luft war warm und drückend.