»Ja«, sagte Silvara leise. »D...das war mein Plan. Jetzt kommt schnell, solange der silberne Mond noch scheint. Denn nur dann können wir eintreten.«
Gilthanas ging mit Silvara Hand in Hand durch den schimmernden Silbernebel. Tolpan hüpfte vor ihnen. Flint und Theros folgten langsam, Laurana noch langsamer. Ihre Ängste waren weder durch Gilthanas' schlagfertige Erklärung noch Silvaras widerstrebende Zustimmung verschwunden. Aber sie konnte nirgendwo anders hingehen und – sie mußte es sich eingestehen – sie war überaus neugierig.
Das Gras auf der anderen Seite der Brücke war weich und flach vom Dampf, aber der Boden begann sich bald zu erheben, als sie sich dem Drachendenkmal näherten. Plötzlich ertönte Tolpans Stimme aus dem Nebel.
»Raistlin!« hörten sie ihn aufschreien. »Er hat sich in einen Riesen verwandelt!«
»Der Kender ist verrückt geworden«, sagte Flint mit düsterer Zufriedenheit. »Ich habe es schon immer gewußt...«
Die Gefährten rannten zu Tolpan, der auf- und absprang und gestikulierte. Sie stellten sich nach Atem japsend neben ihn.
»Beim Bart von Reorx«, keuchte Flint ehrfürchtig. »Das ist Raistlin!«
Aus dem wirbelnden Nebel erhob sich eine etwa drei Meter hohe Statue aus Obsidian in die Luft – das lebensgetreue Abbild des jungen Magiers. Genau in jedem Detail, selbst seine zynische und bittere Miene und seine Augen mit den Stundenglaspupillen waren festgehalten worden.
»Und da ist Caramon!« schrie Tolpan.
Einige Meter entfernt stand eine weitere Statue, die den Kriegerzwilling des Magiers zeigte.
»Und Tanis...«, flüsterte Laurana. »Was ist das für eine böse Magie?«
»Nicht böse«, sagte Silvara, »sofern du nichts Böses zu diesem Ort bringst. In diesem Fall würdest du die Gesichter deiner schlimmsten Feinde als Steinstatuen sehen. Das Entsetzen und die Angst, die sie erzeugen würden, würden dich am Vorbeigehen hindern. Aber du siehst nur deine Freunde, und so kannst du sicher vorbei.«
»Ich würde Raistlin nicht direkt zu meinen Freunden zählen«, murrte Flint.
»Ich auch nicht«, sagte Laurana. Sie bebte, als sie zögernd an dem kalten Bild des Magiers vorbeiging. Die Gewänder des Magiers glänzten schwarz im Mondschein. Laurana erinnerte sich lebhaft an den Alptraum von Silvanesti, und sie zuckte zusammen, als sie betrat, was sie nun als einen Kreis von Steinstatuen erkannte – jede von ihr hatte eine treffende, fast beängstigende Ähnlichkeit mit einem ihrer Freunde. Innerhalb dieses Kreises stand ein kleiner Tempel.
Das einfache, rechtwinklige Gebäude erhob sich in den Nebel von einer achteckigen Erhöhung aus, die mit glänzenden Stufen versehen war. Auch das Gebäude war aus Obsidian, und seine schwarze Struktur glitzerte naß im ewigen Nebel. Es wirkte, als ob es erst vor einigen Tagen gemeißelt worden wäre; kein Zeichen von Abnutzung verunstaltete die scharfen, klaren Linien der Meißelarbeiten. Ritter, die alle die Drachenlanze trugen, kämpften gegen riesige Ungeheuer. Drachen schrien stumm im erfrorenen Tod, aus ihren Körpern ragten die langen Schäfte der Lanzen.
»In den Tempel hatten sie Humas Körper gelegt«, sagte Silvara leise, als sie sie die Stufen hinaufführte.
Kalte Bronzetüren öffneten sich bei Silvaras Berührung. Die Gefährten standen unsicher auf den Stufen, die den säulenartigen Tempel umgaben. Aber so wie Gilthanas gesagt hatte, sie konnten nichts Böses an diesem Ort spüren. Laurana erinnerte sich lebhaft an das Grab der Königlichen Wachen im Sla-Mori und an das Entsetzen, das die Untoten erzeugt hatten, die ewige Wache bei ihrem toten König Kith-Kanan hielten. In diesem Tempel jedoch spürte sie nur Trauer und Verlust, gemildert durch das Wissen eines großen Sieges – eine Schlacht, die ihren furchtbaren Preis gehabt, aber ewigen Frieden und süße Ruhe gebracht hatte.
Laurana fühlte ihre Last leichter werden. Ihre Trauer und ihr Verlust schienen sich hier zu verringern. Sie erinnerte sich an eigene Siege und Triumphe. Die Gefährten betraten hintereinander das Grabmal. Die Bronzetüren schlossen sich hinter ihnen und ließen sie in völliger Dunkelheit.
Dann flackerte Licht auf. Silvara hielt eine Fackel in ihrer Hand, offensichtlich von der Wand. Laurana fragte sich kurz, wie sie die Fackel angezündet hatte. Aber sie vergaß diese triviale Frage, als sie sich in der Grabesstätte ehrfürchtig umsah.
Sie war leer außer einer aus Obsidian gemeißelten Totenbahre, die mitten im Raum stand. Gemeißelte Ritterfiguren trugen die Bahre, aber der Körper des Ritters, der hier ruhen sollte, war nicht da. Ein uralter Schild lag am Fußende, und ein Schwert, ähnlich dem von Sturm, lag daneben. Die Gefährten starrten stumm diese Artefakte an. Es mutete wie eine Entweihung an, in der traurigen Gelassenheit dieses Ortes zu sprechen, und keiner berührte die Gegenstände, nicht einmal Tolpan.
»Ich wünschte, Sturm könnte hier sein«, murmelte Laurana mit Tränen in den Augen. »Das muß Humas Ruhestätte sein... dennoch...« Sie konnte sich ihr wachsendes Gefühl des Unbehagens, das über sie kroch, nicht erklären. Es war keine Furcht, es war eher das gleiche Empfinden, das sie beim Betreten des Tals empfunden hatte – ein Gefühl der Dringlichkeit.
Silvara entzündete noch mehr Fackeln an der Wand, und die Gefährten gingen an der Totenbahre vorbei und blickten sich neugierig in der Grabstätte um. Sie war nicht groß. Die Totenbahre stand in der Mitte, und Steinbänke reihten sich an den Wänden, wahrscheinlich für die Trauernden. Am anderen Ende stand ein kleiner Steinaltar. Auf seiner Oberfläche waren die Symbole der Ritterorden eingemeißelt – die Krone, die Rose und der Eisvogel. Vertrocknete Blumen und Kräuter lagen verstreut auf dem Altar, ihr Duft hing immer noch süß in der Luft.
Unter dem Altar befand sich im Steinboden eine riesige Eisenplatte.
Während Laurana neugierig auf diese Platte starrte, trat Theros zu ihr.
»Was ist das wohl?« fragte sie. »Ein Brunnen?«
»Wir werden sehen«, ächzte der Schmied. Er beugte sich und zog an dem Ring auf der Platte. Zuerst passierte nichts. Theros legte nun beide Hände an den Ring und hob mit seiner ganzen Kraft. Die Eisenplatte gab ein ächzendes Geräusch von sich und glitt mit einem Kratzen und Quietschen über den Boden.
»Was macht ihr da?« Silvara, die neben der Bahre gestanden und sie traurig betrachtet hatte, wirbelte herum.
Theros erhob sich erstaunt über den schrillen Klang ihrer Stimme. Laurana wich automatisch von dem klaffenden Loch im Boden zurück. Beide starrten Silvara an.
»Geht nicht näher heran!« warnte Silvara mit bebender Stimme. »Es ist gefährlich!«
»Woher weißt du das?« fragte Laurana kühl. »Seit Hunderten von Jahren ist niemand mehr hierhergekommen.«
»Nein!« antwortete Silvara und biß sich auf die Lippe. »Ich... ich weiß es aus... Legenden meines Volkes...«
Das Mädchen ignorierend, trat Laurana zum Rand des Loches und spähte hinein. Es war dunkel. Selbst als Flint ihr eine Fakkel von der Wand brachte, konnte sie nichts erkennen. Ein schwacher modriger Geruch stieg hoch, aber das war auch alles.
»Ich glaube nicht, daß das ein Brunnen ist«, sagte Tolpan, der sich herangedrängt hatte.
»Bleibt davon weg! Bitte!« bat Silvara.
»Sie hat recht, kleiner Dieb!« Theros packte Tolpan und zog ihn von dem Loch weg. »Wenn du da hineinfällst, könntest du zur anderen Seite der Welt purzeln.«
»Wirklich?« fragte Tolpan atemlos. »Würde ich vielleicht zur anderen Seite fallen, Theros? Ich frage mich, wie das wohl wäre! Gibt es da auch Leute? So wie wir?«
»Hoffentlich keine Kender!« grummelte Flint. »Oder sie sind jetzt alle schon an Schwachsinn gestorben. Außerdem weiß jedes Kind, daß die Welt auf dem Amboß von Reorx ruht. Jene, die auf die andere Seite fallen, werden zwischen seinen Hammerschlägen gefangen, und die Welt wird weitergeschmiedet. Leute auf der anderen Seite!« Er schnaubte verächtlich, als er Theros beobachtete, der erfolglos versuchte, die Platte zurückzuschieben. Tolpan starrte sie immer noch neugierig an.