Schließlich gab Theros auf, aber er funkelte den Kender so lange an, bis Tolpan laut aufseufzte und zur steinernen Totenbahre ging, um mit sehnsüchtigen Augen auf Schwert und Schild zu starren.
Flint zog Laurana am Ärmel.
»Was ist los?« fragte sie geistesabwesend, ihre Gedanken waren weit weg.
»Ich kenne mich mit Steinarbeiten aus«, sagte der Zwerg leise, »und hier ist irgend etwas seltsam.« Er hielt inne und sah Laurana an, ob sie lachen würde. Aber sie sah ihn ernst an.
»Das Grabmal und die Statuen draußen sind die Arbeit von Menschen. Sie sind alt...«
»Alt genug, um Humas Grabmal zu sein?« unterbrach Laurana.
»Auf alle Fälle.« Der Zwerg nickte bekräftigend. »Aber das große Biest draußen«, er deutete in Richtung des Steindrachen, »wurde niemals von Menschen, Elfen oder Zwergen geschaffen.«
Laurana blinzelte verständnislos.
»Und es ist noch älter«, sagte der Zwerg, seine Stimme wurde heiser. »So alt, daß dies«, seine Hand fuhr über das Grab, »modern erscheint.«
Laurana begann zu verstehen. Flint, der sah, wie sich ihre Augen weiteten, nickte langsam und feierlich.
»Kein Lebewesen auf Krynn mit zwei Beinen kann diese Gebirgsseite mit dem Meißel bearbeitet haben«, sagte er.
»Es muß eine Kreatur mit furchtbarer Kraft gewesen sein...«, murmelte Laurana. »Eine riesige Kreatur...«
»Mit Flügeln...«
»Mit Flügeln«, murmelte Laurana.
Plötzlich hörte sie auf zu reden, ihr Blut gefror vor Angst, als sie Worte singen hörte, Worte, die sie als die seltsame Sprache der Magie erkannte.
»Nein!« Sie wandte sich um, hob instinktiv ihre Hand, um den Zauber abzuwehren, wußte jedoch, daß das zwecklos war.
Silvara stand neben dem Altar, zerrupfte Rosenblätter in ihrer Hand und sang leise.
Laurana bekämpfte die Müdigkeit, die sie überschlich. Sie fiel auf die Knie, verfluchte sich, hielt sich an der Steinbank fest. Aber es half nichts. Sie hob ihre schweren Lider und sah Theros stolpern und Gilthanas auf den Boden fallen. Neben ihr schnarchte der Zwerg, noch bevor sein Kopf auf der Bank aufschlug.
Laurana hörte ein klapperndes Geräusch, das Geräusch eines Schildes, der auf den Boden fiel, dann war die Luft mit dem Duft der Rosen erfüllt.
21
Die überraschende Entdeckung des Kenders. Hühnerfedern
Tolpan hörte Silvaras Gesang. Als er erkannte, daß es die Worte eines Zauberspruches waren, handelte er instinktiv, indem er den Schild von der Totenbahre ergriff und ihn nach unten zog. Der schwere Schild fiel klappernd auf ihn und bedeckte ihn völlig.
Er wartete, bis Silvara ihren Gesang beendet hatte. Dann wartete er noch einen Augenblick, um zu sehen, ob er sich in einen Frosch verwandeln oder in Flammen aufgehen würde oder etwas anderes Interessantes. Nichts dergleichen passierte – zu seiner großen Enttäuschung. Er konnte Silvara nicht mehr hören. Schließlich wurde es Tolpan zu langweilig, in der Dunkelheit auf dem kalten Steinboden zu liegen, und er kroch unter dem Schild mit der Geräuschlosigkeit einer fallenden Feder hervor.
Alle seine Freunde schliefen! So einen Zauber hatte sie also geworfen. Aber wo war Silvara? Irgendwohin gegangen, um ein schreckliches Ungeheuer zu holen, das sie alle auffressen sollte? Zu seinem Erstaunen sah er Silvara auf dem Boden am Grabeingang kauern. Tolpan beobachtete, daß sie hin und her schaukelte und leise stöhnende Laute von sich gab.
»Wie soll ich damit klarkommen?« hörte Tolpan sie fragen.
»Ich habe sie hierhergebracht. Ist das nicht genug? Nein!« Sie schüttelte trübsinnig den Kopf. »Nein, ich habe die Kugel der Drachen weggeschickt. Sie wissen nicht, wie sie anzuwenden ist. Ich muß den Eid brechen. Es ist so, wie du gesagt hast, Schwester – die Entscheidung liegt bei mir. Aber es ist so hart! Ich liebe ihn...«
Schluchzend und zu sich murmelnd wie eine Besessene vergrub Silvara ihren Kopf zwischen ihren Knien. Der zartfühlende Kender hatte niemals zuvor so viel Leid gesehen und hätte sie gern getröstet. Dann bemerkte er, daß sich das gar nicht gut anhörte, was sie da erzählte, »... die Entscheidung ist... so hart... den Eid brechen...«
Nein, dachte Tolpan, ich versuche lieber, hier zu verschwinden, bevor sie merkt, daß ihr Zauber bei mir nicht funktioniert hat.
Aber im Eingang saß Silvara. Er könnte versuchen, sich an ihr vorbeizuschleichen... Tolpan schüttelte den Kopf. Zu riskant.
Das Loch! Er strahlte. Er wollte es sowieso näher untersuchen. Er hoffte nur, daß es immer noch geöffnet war.
Der Kender ging auf Zehenspitzen um die Bahre herum zum Altar. Dort war das Loch, immer noch offen. Theros lag daneben und schlief fest. Er blickte schnell zu Silvara zurück, dann schlich er sich lautlos zum Rand.
Das war sicher ein besseres Versteck, als hier zu stehen. Es gab keine Stufen, aber er sah an der Wand Griffe. Für einen geschickten Kender – so wie er – dürfte es überhaupt kein Problem sein, hinunterzuklettern. Vielleicht führte es nach draußen. Plötzlich hörte Tolpan hinter sich ein Geräusch. Silvara seufzte und bewegte sich...
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, ließ sich Tolpan in das Loch gleiten und begann den Abstieg. Die Wände waren von Feuchtigkeit und Moos glatt, die Griffe lagen weit auseinander. Für Menschen gebaut, dachte er wütend.
Niemand dachte an kleine Leute!
Er war so beschäftigt, daß er die Edelsteine erst bemerkte, als er praktisch über ihnen war.
»Beim Bart von Reorx!« fluchte er. (Ihm gefiel dieser Fluch von Flint). Sechs wunderschöne Juwelen – jeder so groß wie seine Hand – waren in einem horizontalen Kreis an den Wänden herum befestigt. Sie waren mit Moos bedeckt, aber Tolpan sah auf einen Blick, wie wertvoll sie waren.
»Warum sollte jemand solch wunderschöne Juwelen hier unten lassen?« fragte er laut. »Ich wette, das war ein Dieb. Wenn ich sie loskriege, werde ich sie dem rechtmäßigen Besitzer aushändigen.« Seine Hand schloß sich um einen Juwel.
Ein gewaltiger Windstoß fuhr durch den Schacht und riß den Kender von der Wand. Während Tolpan fiel, sah er hoch. Das Licht oben am Schacht wurde immer schwächer und schwächer.
Er fragte sich kurz, wie groß wohl der Hammer von Reorx sein würde, als er zu fallen aufhörte.
Einen Moment lang wirbelte der Wind ihn umher. Dann änderte er die Richtung und blies ihn seitwärts. Ich gehe doch nicht zu der anderen Seite der Welt, dachte er traurig. Seufzend segelte er durch einen anderen Tunnel. Dann merkte er plötzlich, daß er nach oben stieg! Ein starker Wind trug ihn nach oben zum Schacht! Es war ein ungewöhnliches Gefühl, recht erfrischend. Instinktiv breitete er seine Arme aus, um zu sehen, ob er die Seiten von was auch immer berühren konnte. Aber als er die Arme spreizte, bemerkte er, daß er schneller stieg, sanft von der Luftströmung nach oben getragen wurde.
Vielleicht bin ich tot, dachte Tolpan. Ich bin tot und leichter als Luft. Was weiß ich. Hektisch griff er nach seinen Beuteln.
Er war sich nicht sicher – die Kender hatten nur sehr verschwommene Vorstellungen über das Leben nach dem Tod -, aber er hatte das Gefühl, daß sie ihn nicht seine Sachen mitnehmen lassen würden. Nein, alles war noch da. Tolpan seufzte erleichtert auf, schluckte dann aber, als er feststellte, daß er langsamer wurde und wieder fiel!
Was? dachte er wild, dann merkte er, daß er beide Arme eng an seinen Körper gelegt hatte. Eilig spreizte er sie und stieg wieder nach oben. Überzeugt, nicht tot zu sein, genoß er den Flug.
Mit den Händen rudernd, rollte sich der Kender in der Luft auf den Rücken und starrte nach oben, um zu sehen, wohin er schwebte.
Ah, da weit oben war ein Licht, das immer heller wurde. Jetzt sah er, daß er sich in einem Schacht befand, aber dieser war länger als der andere, in den er gestürzt war.
»Wenn ich Flint davon erzähle!« sagte er versonnen. Dann fiel sein Blick auf sechs Juwelen, ähnlich jenen, die er im anderen Schacht gesehen hatte. Der Wind wurde schwächer.