»Ja, ich bin ein ganz guter Magier, weißt du.«
»Uh, richtig«, stammelte Tolpan, dann fuhr er eilig fort. »Du hast also diesen Zauber aufgesagt, Federfall oder so ähnlich. Jedenfalls hast du nur das erste Wort, ›Feder‹, gesagt und plötzlich« – der Kender spreizte seine Hände, Ehrfurcht stand in seinem Gesicht -, »dann waren da Millionen und Millionen und Millionen Hühnerfedern...«
»Und was geschah dann?« drängte der alte Mann und stieß Tolpan an.
»Oh, uh, dann wird es ein bißchen – uh – durcheinander«, sagte Tolpan. »Ich hörte einen Aufschrei und dann einen Aufprall. Nun, es war eher wie ein Aufklatschen, und ich d-d-dachte, du wärst aufgeklatscht.«
»Ich?« schrie der alte Mann. »Aufklatschen!« Er funkelte den Kender wütend an. »Nie in meinem Leben bin ich aufgeklatscht!«
»Dann fielen Sestun und ich in die Hühnerfedern, zusammen mit der Kette. Ich habe geguckt – wirklich.« Tolpans Augen füllten sich mit Tränen, als er sich an seine verzweifelte Suche nach dem Körper des alten Mannes erinnerte. »Aber da waren zu viele Federn... und draußen war dieses schreckliche Durcheinander, wo die Drachen sich bekämpft haben. Sestun und ich gelangten zur Tür, und dort fanden wir Tanis, und ich wollte noch einmal zurück, um noch einmal zu suchen, aber Tanis sagte, nein...«
»Ihr habt mich also unter einem Berg von Hühnerfedern begraben gelassen?«
»Es war ein schrecklich netter Gedenkgottesdienst«, stammelte Tolpan. »Goldmond sprach, und auch Elistan. Du hast Elistan nicht kennengelernt, aber an Goldmond erinnerst du dich, nicht wahr? Und an Tanis?«
»Goldmond...«, murmelte der alte Mann. »Ah ja. Nettes Mädchen. Ein großer, ernster Kerl ist in sie verliebt.«
»Flußwind!« sagte Tolpan aufgeregt. »Und Raistlin?«
»Der dürre Bursche. Verdammt guter Magier«, sagte der alte Mann feierlich, »aber er wird es zu nichts bringen, wenn er nichts gegen seinen Husten unternimmt.«
»Du bist Fizban!« sagte Tolpan. Freudig sprang er hoch, warf seine Arme um den alten Mann und drückte ihn eng an sich.
»Nun, nun«, sagte Fizban verlegen. »Es reicht. Du zerknitterst mein Gewand. Und heul nicht. Ich kann es nicht ertragen. Brauchst du ein Taschentuch?«
»Nein, hab' ich selber...«
»Nun, um so besser. Oh, ich würde sagen, das ist mein Taschentuch. Da sind meine Initialen...«
»Wirklich? Du mußt es fallen gelassen haben.«
»Jetzt erinnere ich mich an dich!« sagte der alte Mann laut.
»Du bist Toli, Tola – oder so ähnlich.«
»Tolpan. Tolpan Barfuß«, erwiderte der Kender.
»Und ich bin...«, der alte Mann stockte. »Was hast du gesagt, wie mein Name ist?«
»Fizban.«
»Fizban. Ja...« Der alte Mann dachte einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich war mir sicher, daß er tot ist...«
22
Silvaras Geheimnis
»Wie hast du denn überlebt?« fragte Tolpan, während er Trockenfrüchte aus einem Beutel zog, um sie mit Fizban zu teilen.
Der alte Mann wirkte nachdenklich. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß ich es habe«, sagte er entschuldigend. »Leider habe ich nicht die geringste Ahnung. Aber wenn ich darüber nachdenke... ich kann seitdem keine Hähnchen mehr essen. Nun«, – er starrte den Kender scharfsinnig an -, »was treibst du überhaupt hier?«
»Ich bin mit einigen meiner Freunde hier. Die anderen wandern irgendwo herum, falls sie noch leben.« Wieder schniefte Tolpan.
»Das tun sie. Mach dir keine Sorgen.« Fizban klopfte ihm auf die Schulter.
»Glaubst du wirklich?« Tolpan strahlte auf. »Nun, jedenfalls sind wir mit Silvara hier...«
»Silvara?« Der alte Mann sprang auf seine Füße, sein weißes Haar flog wild herum. Der ausdruckslose Blick verschwand aus seinen Augen.
»Wo ist sie?« verlangte der alte Mann streng. »Und deine Freunde, wo sind sie?«
»U-unten«, stammelte Tolpan, erschrocken über die Verwandlung des alten Mannes. »Silvara hat einen Zauber über sie geworfen!«
»Ah, hat sie das, hat sie das?« murmelte der alte Mann. »Wir werden uns das mal ansehen. Komm!« Er begann so schnell den Balkon entlangzulaufen, daß Tolpan Mühe hatte, Schritt zu halten.
»Wo sind sie noch mal?« fragte der alte Mann und hielt an der Treppe an. »Sei genau«, schnappte er.
»Uh – das Grabmal! Humas Grabmal! Ich glaube, es ist Humas Grabmal. Das hat Silvara jedenfalls gesagt.«
»Pff. Nun, zumindest brauchen wir nicht zu laufen.«
Sie stiegen die Treppe hinunter zu dem Loch im Boden, durch das Tolpan gekommen war. Der alte Mann stellte sich mitten in dieses Loch. Tolpan schluckte ein wenig, dann stellte er sich zu ihm und klammerte sich an das Gewand des alten Mannes. Sie hingen schwebend über dem Nichts, nur Dunkelheit um sie und kühle Luft.
»Nach unten«, erklärte der alte Mann.
Sie begannen sich zu erheben und trieben zur Decke der oberen Galerie. Tolpans Haare standen zu Berge.
»Ich sagte nach unten!« schrie der alte Mann wütend und fuchtelte drohend das Loch unter ihm an.
Es folgte ein schlürfendes Geräusch, und beide wurden so schnell in das Loch gesogen, daß Fizbans Hut wegflog. Es ist derselbe Hut, den er in der Höhle des roten Drachen verloren hat, dachte Tolpan. Er war verbogen und formlos und besaß offenbar seinen eigenen Willen. Fizban griff wild nach ihm, verfehlte ihn aber. Der Hut jedoch schwebte hinter ihnen her.
Tolpan spähte fasziniert nach unten und wollte eine Frage stellen, aber Fizban hieß ihn schweigen. Er hielt seinen Stab umklammert, flüsterte leise und malte ein merkwürdiges Zeichen in die Luft.
Laurana öffnete ihre Augen. Sie lag auf einer kalten Steinbank und starrte auf die schwarze, glänzende Decke. Sie hatte keine Vorstellung, wo sie sich befand. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Silvara!
Sie setzte sich schnell auf und warf einen Blick durch den Raum. Flint stöhnte und rieb sich den Nacken. Theros blinzelte und sah sich verwirrt um. Gilthanas, bereits auf den Füßen, stand am Fußende von Humas Totenbahre und starrte auf etwas an der Tür. Als Laurana zu ihm ging, wandte er sich um. Er legte seinen Finger auf seine Lippen und zeigte zur Tür.
Dort saß Silvara und weinte bitterlich.
Laurana zögerte, die wütenden Worte, die sie auf der Zunge hatte, erstarben ihr. Das war sicherlich nicht das, was sie erwartet hatte. Was hatte sie dann erwartet? fragte sie sich.
Höchstwahrscheinlich nie mehr wach zu werden. Es mußte eine Erklärung geben. Sie ging nach vorn.
»Silvara...«, begann sie.
Das Mädchen sprang auf, ihr verweintes Gesicht war blaß vor Angst.
»Wieso seid ihr wach? Wie habt ihr euch von meinem Zauber befreien können?« keuchte sie und taumelte gegen die Wand.
»Mach dir darüber keine Gedanken!« antwortete Laurana, obwohl sie es selbst nicht wußte. »Sag uns...«
»Es war mein Tun!« verkündete eine tiefe Stimme. Laurana und die anderen drehten sich um und sahen einen weißbärtigen alten Mann in mausgrauen Gewändern feierlich aus dem Loch im Boden emporsteigen.
»Fizban!« flüsterte Laurana ungläubig.
Es klirrte und schepperte. Flint war ohnmächtig zu Boden gestürzt. Niemand sah nach ihm. Sie starrten einfach nur ehrfürchtig den alten Magier an. Dann warf sich Silvara flach auf den kalten Steinboden und zitterte und wimmerte.