»Silvara, ich verstehe nicht!« schrie Gilthanas.
»Das wirst du«, versprach sie mit leiser Stimme. Sie senkte ihren Kopf.
Gilthanas nahm sie in seine Arme und hielt sie fest. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er küßte ihr wunderschönes Silberhaar, dann umklammerte er sie mit einem Schluchzen.
Laurana drehte sich um. Diese Trauer erschien ihr zu heilig, um sie mit ihren Augen zu stören. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, sah sich um und erinnerte sich an den Zwerg. Mit Wasser aus seinem Wasserschlauch besprenkelte sie Flints Gesicht.
Seine Augenlider flatterten, dann öffneten sie sich. Der Zwerg starrte Laurana einen Moment an, dann streckte er eine zitternde Hand aus.
»Fizban!« flüsterte der Zwerg heiser.
»Ich weiß«, sagte Laurana und fragte sich, wie der Zwerg die Neuigkeiten über Tolpans Weggang aufnehmen würde.
»Fizban ist tot!« keuchte Flint. »Tolpan sagte das! In einem Haufen von Hühnerfedern!« Der Zwerg versuchte sich aufzusetzen. »Wo ist dieser hohlköpfige Kender?«
»Er ist gegangen, Flint«, sagte Laurana. »Er ist mit Fizban weggegangen.«
»Gegangen?« Der Zwerg sah sich sprachlos um. »Du hast ihn gehen lassen? Mit dem alten Mann?«
»Leider...«
»Du hast ihn mit einem toten alten Mann gehen lassen?«
»Mir blieb nicht viel anderes übrig.« Laurana lächelte. »Es war seine Entscheidung. Es geht ihm gut...«
»Wo sind sie hingegangen?« Flint erhob sich und schulterte sein Gepäck.
»Du kannst ihnen nicht folgen«, sagte Laurana. »Bitte, Flint.« Sie legte ihren Arm um die Schultern des Zwerges. »Ich brauche dich. Du bist Tanis' ältester Freund, mein Ratgeber...«
»Aber er ist ohne mich gegangen«, sagte Flint klagend. »Wie konnte er einfach gehen? Ich habe ihn nicht weggehen sehen.«
»Du bist ohnmächtig geworden...«
»So etwas passiert mir nicht!« brüllte der Zwerg.
»Es – es hat dich umgehauen«, stammelte Laurana.
»Ich werde nie ohnmächtig!« stellte der Zwerg beleidigt klar.
»Es muß ein Rückfall dieser tödlichen Krankheit gewesen sein, die ich mir an Bord des Bootes...« Flint ließ sein Gepäck fallen und sich daneben. »Dummer Kender. Rennt mit einem toten alten Mann davon.«
Theros gesellte sich zu Laurana und zog sie beiseite. »Wer war dieser alte Mann?« fragte er neugierig.
»Das ist eine lange Geschichte.« Laurana seufzte. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage überhaupt beantworten könnte.«
»Er kommt mir bekannt vor.« Theros runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn gesehen habe, obwohl es mich an Solace und an das Wirtshaus Zur letzten Bleibe denken läßt. Und er kannte mich...« Der Schmied starrte auf seine silberne Hand. »Ich spürte einen Schock, als er mich ansah, wie ein Blitz, der in einen Baum einschlägt.«
Der große Schmied erzitterte, dann blickte er zu Silvara und Gilthanas. »Und was ist damit?«
»Ich denke, wir werden es endlich erfahren«, sagte Laurana.
»Du hattest recht«, sagte Theros. »Du hast ihr nicht vertraut...«
»Aber nicht aus den richtigen Gründen«, gab Laurana schuldschuldbewußt zu.
Mit einem Seufzer löste sich Silvara aus Gilthanas' Umarmung. Der Elfenlord ließ sie nur widerstrebend los.
»Gilthanas«, sagte sie, nachdem sie zitternd Atem geholt hatte, »nimm eine Fackel von der Wand und halte sie vor mich.«
Gilthanas zögerte. Dann befolgte er fast wütend ihre Anweisung.
»Halt die Fackel hierher...«, befahl sie und führte seine Hand, so daß das Licht direkt auf sie fiel. »Jetzt – schau auf meinen Schatten an der Wand«, sagte sie zitternd.
In der Grabstätte war es still, nur die flackernde Fackel machte Geräusche. Silvaras Schatten wurde an der kalten Steinwand lebendig. Die Gefährten starrten darauf, und einen Augenblick lang konnte keiner ein Wort herausbringen.
Der Schatten, den Silvara auf die Wand warf, war nicht der Schatten einer jungen Elfe.
Es war der Schatten eines Drachen.
»Du bist ein Drache!« sagte Laurana schockiert und ungläubig. Sie legte ihre Hand ans Schwert, aber Theros hielt sie zurück.
»Nein!« sagte er plötzlich. »Ich erinnere mich. Dieser alte Mann...« Er sah auf seinen Arm. »Ich erinnere mich jetzt. Er kam früher in das Wirtshaus Zur letzten Bleibe! Er war nur anders gekleidet. Er war kein Magier, aber er war es! Ich schwöre es! Er erzählte den Kindern Geschichten. Geschichten über gute Drachen. Goldene Drachen und...«
»Silberne Drachen«, ergänzte Silvara, auf Theros blickend.
»Ich bin ein silberner Drache. Meine Schwester war der Silberdrache, den Huma liebte und der mit ihm zusammen in der letzten großen Schlacht kämpfte...«
»Nein!« Gilthanas warf die Fackel auf den Boden. Sie lag flackernd zu seinen Füßen; dann trampelte er wütend auf sie ein und löschte sie. Silvara beobachtete ihn mit traurigen Augen, streckte ihre Hand aus, um ihn zu trösten.
Gilthanas wich vor ihrer Berührung zurück, starrte sie entsetzt an.
Silvara senkte langsam ihre Hand. Sie seufzte und nickte.
»Ich verstehe«, murmelte sie. »Es tut mir leid.«
Gilthanas begann zu beben, wurde dann vom Schmerz überwältigt. Theros legte seine starken Arme um ihn und führte ihn zu einer Bank.
»Es geht schon wieder«, murmelte Gilthanas. »Laß mich nur ein wenig in Ruhe, laß mich nachdenken. Das ist Wahnsinn! Ein Alptraum! Der Drache!« Er schloß fest seine Augen, als ob er den Anblick für immer auslöschen wollte. »Ein Drache...«, flüsterte er gebrochen. Theros streichelte ihn sanft, dann ging er zu den anderen zurück.
»Wo sind denn die anderen guten Drachen?« fragte Theros.
»Der alte Mann sagte, daß es viele geben würde. Silberne Drachen, goldene Drachen...«
»Es gibt viele von uns«, antwortete Silvara widerstrebend.
»Wie der silberne Drache, den wir in Eismauer gesehen haben!« sagte Laurana. »Es war ein guter Drache. Wenn es so viele von euch gibt, dann tut euch doch zusammen! Helft uns, gegen die bösen Drachen zu kämpfen!«
»Nein!« schrie Silvara heftig. Ihre blauen Augen flackerten auf, und Laurana wich einen Schritt vor ihrem Zorn zurück.
»Warum nicht?«
»Das kann ich nicht sagen.« Silvaras Hände zuckten nervös.
»Es hat etwas mit dem Eid zu tun!« bohrte Laurana weiter.
»Oder nicht? Der Eid, den du gebrochen hast. Und die Bestrafung, nach der du Fizban gefragt hast...«
»Ich kann darüber nicht reden!« Silvara sprach leise und leidenschaftlich. »Was ich getan habe, ist schlimm genug. Aber ich mußte etwas unternehmen! Ich konnte nicht länger in dieser Welt leben und das Leiden Unschuldiger mit ansehen! Ich dachte, daß ich vielleicht helfen könnte, darum nahm ich die Elfengestalt an und tat, was ich konnte. Ich habe lange gearbeitet, versucht, die Elfen dazu zu bringen, sich zu verbünden. Ich hielt sie vom Krieg ab, aber es wurde immer schlimmer. Dann seid ihr gekommen, und ich sah, daß ihr in großer Gefahr wart, eine Gefahr, die sich keiner von euch vorstellen kann. Denn ihr hattet bei euch...«, ihre Stimme versagte.
»Die Kugel der Drachen!« sagte Laurana plötzlich.
»Ja.« Silvara ballte ihre Fäuste. »Da wußte ich, daß ich eine Entscheidung treffen mußte. Ihr hattet die Kugel, aber auch die Lanze. Die Lanze und die Kugel kamen zu mir! Beides zusammen! Ich dachte, es wäre ein Zeichen, aber ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich entschied, die Kugel hierher und sie für immer in Sicherheit zu bringen. Als wir dann zusammen reisten, wurde mir klar, daß die Ritter das niemals zulassen würden. Es würde Ärger geben. Als sich eine Gelegenheit ergab, schickte ich sie weg.« Ihre Schultern sackten zusammen.
»Das war offenbar die falsche Entscheidung. Aber woher sollte ich das wissen?«
»Warum?« fragte Theros streng. »Was ist mit der Kugel? Ist sie böse? Hast du die Ritter in ihren Untergang geschickt?«