Aber als einer der Menschen durch das Tor trat, wehte sein Umhang hoch, und ein Wächter erhaschte einen kurzen Blick auf die glänzende Rüstung. Der Wächter sah das verhaßte und verschmähte Symbol der Ritter von Solamnia auf dem uralten Brustpanzer. Knurrend verschmolz der Wächter mit den Schatten und schlich hinter den Gefährten her, die durch die Straßen der erwachenden Stadt schritten.
Der Wächter sah, wie sie den Roten Drachen betraten. Er wartete draußen in der Kälte, bis er sicher war, daß sie alle drinnen sein mußten. Dann schlüpfte er hinein, wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und spähte in den Gemeinschaftsraum. Als er die Gruppe dort sitzen sah, lief er fort, um Bericht zu erstatten.
»Das kommt davon, wenn man sich auf die Karte eines Kenders verläßt!« schimpfte der Zwerg, schob seinen leeren Teller beiseite und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Führt uns zu einer Hafenstadt ohne Meer!«
»Das ist nicht meine Schuld«, protestierte Tolpan. »Ich habe Tanis gewarnt, als ich ihm die Karte gab, daß sie vor der Umwälzung gezeichnet worden ist. ›Tolpan‹, fragte Tanis vor unserer Abreise, ›hast du eine Karte, die uns den Weg nach Tarsis zeigt?‹ Ich antwortete, daß ich eine hätte, und gab ihm diese. Sie zeigt Thorbardin, das Zwergenkönigreich unter dem Gebirge, und Südtor, und sie zeigt auch Tarsis, und alles stimmte, was auf der Karte eingezeichnet war. Ich kann nichts dafür, wenn etwas mit dem Meer passiert ist! Ich...«
»Es ist gut, Tolpan.« Tanis seufzte. »Niemand gibt dir die Schuld. Niemand hat Schuld. Wir haben nur unsere Hoffnungen zu hoch gesteckt.«
Der Kender, der nun beschwichtigt war, nahm die Karte zurück, rollte sie ein und verstaute sie bei seinen anderen wertvollen Karten von Krynn. Dann legte er sein kleines Kinn in die Hände und musterte seine düsteren Gefährten, die nun begannen, halbherzig über ihre nächsten Pläne zu reden.
Tolpan langweilte sich. Er wollte die Stadt erforschen. Es gab viel Ungewöhnliches zu sehen und zu hören. Flint hatte ihn praktisch ziehen und zerren müssen, als sie Tarsis betreten hatten. Es gab einen fabelhaften Marktplatz mit wundervollen Dingen, die einfach herumlagen und nur darauf warteten, bewundert zu werden. Er hatte sogar einige Kender entdeckt und wollte mit ihnen reden. Er machte sich um seine Heimat Sorgen. Flint trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.
Ergeben seufzend wandte Tolpan seine Aufmerksamkeit wieder Tanis zu.
»Wir werden die Nacht hier verbringen, uns ausruhen und soviel wie möglich herauszufinden versuchen und dann eine Nachricht nach Südtor überbringen lassen«, sagte Tanis. »Vielleicht liegt weiter südlich noch eine andere Hafenstadt. Einige von uns sollten Weiterreisen und nachforschen. Was meinst du, Elistan?«
Der Kleriker schob seinen unberührten Teller fort. »Das ist wohl unsere einzige Chance«, sagte er traurig. »Aber ich werde nach Südtor zurückkehren. Ich kann nicht zu lange von den Leuten fernbleiben. Du solltest mit mir kommen, meine Liebe.«
Er legte seine Hand auf die Lauranas. »Ich brauche deine Hilfe.«
Laurana lächelte Elistan an. Doch als ihr Blick zu Tanis wanderte, verschwand ihr Lächeln unter seinem finsteren Blick.
»Flußwind und ich haben bereits darüber geredet. Wir werden mit Elistan zurückkehren«, sagte Goldmond. »Die Leute sind auf meine Heilkräfte angewiesen.«
»Nebenbei vermißt das Brautpaar sicher die Intimität seines Zeltes«, fügte Caramon leise hinzu. Goldmond lief knallrot an, als ihr Gatte lächelte.
Sturm sah Caramon voller Abscheu an und wandte sich zu Tanis. »Ich gehe mit dir, mein Freund«, bot er an.
»Wir natürlich auch«, sagte Caramon prompt.
Sturm runzelte die Stirn, während er Raistlin ansah, der in seinem roten Gewand zusammengekauert am Feuer saß und die seltsame Kräutermischung gegen seinen Husten trank. »Ich glaube nicht, daß dein Bruder reisefähig ist, Caramon...«, begann Sturm.
»Du bist ja plötzlich sehr um meine Gesundheit besorgt, Ritter«, flüsterte Raistlin sarkastisch. »Aber es ist doch nicht meine Gesundheit, um die du dich sorgst, Sturm Feuerklinge. Es ist meine zunehmende Macht. Du fürchtest mich...«
»Es reicht!« sagte Tanis, als sich Sturms Gesicht verdunkelte.
»Entweder geht der Magier oder ich«, sagte Sturm eisig.
»Sturm...«, begann Tanis.
Tolpan nutzte die Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Alle waren auf den Streit zwischen Ritter, Halb-Elf und Magier konzentriert. Der Kender schlüpfte aus der Tür des Gasthauses zum Roten Drachen, einen Namen, den er besonders komisch fand. Aber Tanis hatte nicht gelacht.
Tolpan dachte darüber nach, während er durch die Straße schlenderte und sich entzückt umsah. Tanis lachte überhaupt nicht mehr. Es schien, als ob der Halb-Elf das Gewicht der Welt auf seinen Schultern tragen würde. Tolpan glaubte zu wissen, was mit Tanis los war. Der Kender nahm einen Ring aus einem seiner Beutel und studierte ihn. Es war ein nach Elfenart gefertigter Goldring, der sich aneinanderschmiegende Efeublätter zeigte. Er hatte ihn in Qualinesti aufgehoben. Der Ring war etwas, was der Kender nicht »erworben« hatte. Er war zu seinen Füßen gelandet, von einer verzweifelten Laurana weggeworfen, nachdem Tanis ihn ihr zurückgegeben hatte.
Der Kender dachte über alles nach und kam zu dem Schluß, daß das Aufteilen der Gruppe und ein neues Abenteuer genau das Richtige für alle Beteiligten war. Er würde natürlich mit Tanis und Flint gehen – der Kender war fest überzeugt, daß beide ohne ihn nicht auskommen konnten. Aber zuerst mußte er einen Blick auf diese interessante Stadt werfen.
Tolpan erreichte das Ende der Straße. Er blickte kurz zurück und konnte das Wirtshaus zum Roten Drachen erkennen. Gut. Niemand hielt nach ihm Ausschau. Er wollte gerade einen Passanten nach dem Weg zum Marktplatz fragen, als er etwas sah, was bei weitem interessanter war...
Tanis schlichtete den Streit zwischen Sturm und Raistlin. Der Magier entschied, in Tarsis zu bleiben, um nach den Überresten der alten Bibliothek zu forschen. Caramon und Tika wollten bei ihm bleiben, während Tanis, Sturm und Flint (und Tolpan) weiter in den Süden ziehen und auf dem Rückweg die Brüder abholen wollten. Der Rest der Gruppe würde die enttäuschenden Nachrichten nach Südtor bringen. Als das geregelt war, ging Tanis zum Wirt, um die Übernachtung zu bezahlen. Er zählte gerade seine Silberlinge, als ihn eine Hand berührte.
»Könntest du bitte dafür sorgen, daß ich ein anderes Zimmer, näher zu Elistan, bekomme?« bat Laurana.
Tanis sah sie durchdringend an. »Warum das?«
Laurana seufzte. »Wir wollen doch nicht noch einmal diese Angelegenheit durchsprechen, oder?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Tanis kühl und wandte sich von dem grinsenden Wirt ab.
»Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich etwas Sinnvolles und Nützliches«, sagte Laurana. »Und du willst, daß ich damit aufhöre, weil du eifersüchtig bist...«
»Ich bin nicht eifersüchtig«, gab Tanis zurück und errötete.
»Ich sagte dir bereits in Qualinesti, daß die Sache zwischen uns vorbei ist. Ich...« Er hielt inne, fragte sich, ob das stimmte.
Auch jetzt erbebte seine Seele vor ihrer Schönheit. Ja, diese jugendliche Vernarrtheit war vorbei, aber war sie nicht durch etwas anderes ersetzt worden, etwas Stärkeres und Beständigeres? Und war er dabei, es zu verlieren? Hatte er es bereits durch seine Unentschlossenheit und Starrköpfigkeit verloren? Ich verhalte mich typisch menschlich, dachte der Halb-Elf. Etwas ablehnen, wonach man nur die Hand auszustrecken brauchte, um dann zu schreien, wenn es verschwunden war. Er schüttelte verwirrt den Kopf.
»Wenn du nicht eifersüchtig bist, warum läßt du mich dann nicht in Ruhe und meine Arbeit für Elistan in Frieden weiterführen?« fragte Laurana kühl. »Du...«