»Psst!« Tanis hob eine Hand. Laurana wollte verärgert ihren Satz beenden, aber Tanis starrte sie so böse an, daß sie schwieg.
Tanis lauschte. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Er konnte jetzt deutlich das schrille, hohe, schreiende Winseln der Lederschlinge am Ende von Tolpans Hupak hören. Es war ein merkwürdiger Klang, der einem die Haare zu Berge stehen ließ. Es war auch ein Kendersignal für Gefahr.
»Ärger«, sagte Tanis leise. »Hol die anderen.« Laurana gehorchte, ohne Fragen zu stellen, erschreckt von seinem grimmigen Gesichtsausdruck. Der Halb-Elf wandte sich abrupt dem Wirt zu, der sich von der Theke wegschleichen wollte. »Wohin gehst du?« fragte er scharf.
»Ich will nur eure Zimmer überprüfen«, erwiderte der Wirt aalglatt und verschwand in der Küche. In dem Moment stürzte Tolpan durch die Tür der Gaststube.
»Wachen, Tanis! Wachen! Unterwegs hierher!«
»Sie kommen sicherlich nicht wegen uns«, sagte Tanis. Er hielt inne, musterte den diebischen Kender, ein plötzlicher Gedanke durchfuhr ihn. »Tolpan...«
»Es ist nicht wegen mir, ehrlich!« protestierte Tolpan. »Ich bin gar nicht zum Marktplatz gekommen! Ich bin nur bis zum Straßenende gekommen, als ich einen ganzen Trupp in diese Richtung marschieren sah.«
»Was ist mit Wachen?« fragte Sturm, der aus dem Gemeinschaftsraum trat. »Wieder so eine Geschichte vom Kender?«
»Nein. Hört mal«, sagte Tanis. Alle verstummten. Sie konnten das Stampfen von Stiefeln hören und sahen sich besorgt und ängstlich an. »Der Wirt ist verschwunden. Ich habe mich schon gewundert, daß wir so einfach die Stadt betreten durften. Ich hätte mit Ärger rechnen sollen.« Tanis kratzte sich das Kinn, ihm war bewußt, daß alle Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Laurana und Elistan gehen nach oben. Sturm und Gilthanas bleiben bei mir. Die anderen gehen auf ihre Zimmer. Flußwind, du hast das Kommando. Caramon und Raistlin, beschützt sie. Verwende deine Magie, Raistlin, falls notwendig. Flint...«
»Ich bleibe bei dir«, unterbrach ihn der Zwerg entschlossen.
Tanis lächelte und legte seine Hand auf Flints Schulter. »Natürlich, alter Freund.«
Grinsend holte Flint seine Streitaxt hervor. »Nimm sie«, sagte er zu Caramon. »Besser du hast sie als irgendein fieser, verlauster Stadtwächter.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Tanis. Er überreichte Caramon Drachentöter, das magische Schwert, das ihm das Skelett Kith-Kanans, des Elfenkönigs, gegeben hatte.
Gilthanas übergab schweigend sein Schwert und seinen Elfenbogen.
»Auch dein Schwert, Ritter«, sagte Caramon und streckte seine Hand aus.
Sturm runzelte die Stirn. Sein altes zweihändiges Schwert und die Scheide waren das einzige, was ihm von seinem Vater, einem großen Ritter von Solamnia, geblieben war. Er war verschwunden, nachdem er seine Frau und seinen jungen Sohn ins Exil geschickt hatte. Langsam löste Sturm seinen Schwertgürtel und überreichte ihn Caramon.
Der Krieger sah die Sorge des Ritters und wurde ernst. »Ich werde es sorgfältig hüten, das weißt du doch, Sturm.«
»Ich weiß«, antwortete Sturm traurig lächelnd. Er sah kurz zu Raistlin, der auf der Treppe stand. »Außerdem ist da immer noch der große Wurm, Catyrpelius, der es beschützt, nicht wahr, Magier?«
Raistlin stutzte bei diesem unerwarteten Wink aus der Zeit, als er in der ausgebrannten Stadt Solace einige Hobgoblins überlistet hatte, indem er sie davon überzeugt hatte, daß über Sturms Schwert ein Fluch lag. Der Ritter hatte dem Magier gegenüber nie zuvor seine Dankbarkeit auf irgendeine Art geäußert. Raistlin lächelte kurz.
»Ja«, flüsterte er. »Der Wurm ist immer da. Fürchte nichts, Ritter. Deine Waffe ist in Sicherheit, so wie das Leben jener, die unter unserem Schutz sind... wenn überhaupt etwas sicher ist... Auf Wiedersehen, meine Freunde«, zischte er, seine seltsamen Stundenglasaugen leuchteten. »Und es wird lange dauern, bis wir uns wiedersehen. Einigen von uns ist es nicht bestimmt, die anderen in dieser Welt wiederzutreffen.« Damit verbeugte er sich und begann die Stufen hinaufzusteigen.
Was meint er damit, dachte Tanis nervös, während er die Fußtritte immer näher kommen hörte.
»Macht schon!« befahl er. »Falls er recht hat, können wir jetzt sowieso nichts daran ändern.«
Nach einem zögernden Blick auf Tanis folgten auch die anderen seinen Anordnungen. Nur Laurana warf auf der Treppe noch einen ängstlichen Blick auf Tanis zurück. Dann nahm Elistan ihren Arm. Caramon wartete mit gezogenem Schwert, bis alle verschwunden waren.
»Macht euch keine Sorgen«, sagte der Krieger. »Uns wird nichts passieren. Falls ihr bis zum Einbruch der nächsten Nacht nicht zurück seid...«
»Sucht nicht nach uns!« unterbrach ihn Tanis, dem Caramons Absicht klar war. Der Halb-Elf war durch Raistlins unheilvolle Bemerkung verunsicherter, als er zuzugeben bereit war. Er kannte den Magier nun seit vielen Jahren und hatte seine Macht wachsen sehen, selbst als die Schatten sich dichter um ihn zusammenzogen. »Falls wir nicht zurückkommen, bring Elistan, Goldmond und die anderen nach Südtor zurück.«
Caramon nickte widerstrebend, dann ging er waffenklirrend und nachdenklich die Stufen hoch.
»Es ist wahrscheinlich nur eine Routineüberprüfung«, sagte Sturm eilig, als die Wachen nun durch die Fenster zu sehen waren. »Sie werden uns einige Fragen stellen und dann freilassen. Aber mit Sicherheit haben sie von uns allen eine Beschreibung!«
»Ich habe das Gefühl, es ist keine Routine. So wie hier jeder verschwindet. Und sie haben mit einigen von uns etwas vor«, sagte Tanis leise, als die Wachen durch die Tür traten, angeführt vom Wachtmeister und dem Wächter vom Stadttor.
»Da sind sie!« schrie der Wächter. »Da ist der Ritter, wie ich dir gesagt habe. Und der bärtige Elf, der Zwerg und der Kender und ein Elfenlord.«
»Richtig«, sagte der Wachtmeister lebhaft. »Nun, und wo sind die anderen?« Auf sein Zeichen richteten die Wachen ihre Lanzen auf die Gefährten.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Tanis sanft. »Wir sind Fremde in Tarsis, auf der Durchreise nach Süden. Ist das eure Art, Fremde in eurer Stadt zu begrüßen?«
»Wir begrüßen in unserer Stadt keine Fremden«, erwiderte der Wachtmeister. Sein Blick wanderte zu Sturm, und er grinste höhnisch. »Besonders keinen Ritter von Solamnia. Wenn ihr unschuldig seid, wie ihr behauptet, werdet ihr mit gutem Gewissen einige Fragen vom Lord und seinen Ratgebern beantworten können. Wo sind die anderen von eurer Gruppe?«
»Meine Freunde sind müde und auf ihren Zimmern, um sich auszuruhen. Unsere Reise war lang und anstrengend. Aber wir wollen keinen Ärger erregen. Wir vier werden mit dir gehen und deine Fragen beantworten.«
»Fünf«, fügte Tolpan beleidigt hinzu, aber alle ignorierten ihn. »Es besteht kein Grund, unsere Gefährten zu stören.«
»Holt die anderen«, befahl der Wachtmeister seinen Männern.
Zwei Wachen hielten auf die Treppe zu, die plötzlich in Flammen stand! Rauch zog in Schwaden durch den Raum und trieb die Wachen zurück. Alle rannten zur Tür. Tanis ergriff Tolpan, der mit aufgerissenen Augen interessiert zur Treppe starrte, und zog ihn nach draußen.
Der Wachtmeister blies hektisch in seine Pfeife, während einige seiner Männer durch die Straßen jagen wollten, um Alarm zu schlagen. Aber die Flammen erstarben genauso plötzlich, wie sie gekommen waren.
»Eeep...« Der Wachtmeister hörte mit dem Pfeifen auf. Mit blassem Gesicht trat er müde in das Wirtshaus zurück. Tanis, der über seine Schulter sah, schüttelte ehrfurchtsvoll seinen Kopf. Der Rauch war wie weggeblasen. Von den obersten Stufen konnte er schwach Raistlins Stimme hören. Als der Wachtmeister begreifend nach oben sah, brach das Singen ab.
Tanis schluckte, dann holte er tief Luft. Er wußte, daß er so blaß sein mußte wie der Wachtmeister, und er warf Sturm und Flint einen Blick zu. Raistlins Macht wurde immer größer...
»Der Magier muß oben sein«, murmelte der Wachtmeister.