»Herr«, stieß der alte Mann hervor, »kehrt sofort um.«
»Was ist denn los?« fragte Gunther. Aber der alte Gefolgsmann war völlig außer Atem und konnte nicht antworten.
Seufzend ging der solamnische Fürst in sein Zelt zurück, wo er Fürst Michael in voller Rüstung nervös auf und ab schreitend vorfand.
»Was ist los?« fragte Gunther. Ihn verließ der Mut, als er die ernste Miene des jungen Fürsten sah.
Michael trat zu ihm und ergriff seinen Arm. »Mein Fürst, wir haben erfahren, daß die Elfen die Rückgabe der Kugel der Drachen verlangen. Falls wir sie nicht zurückgeben, werden sie gegen uns Krieg führen, um sie gewaltsam zu erobern!«
»Was?« fragte Gunther ungläubig. »Krieg! Gegen uns! Das ist lächerlich! Sie können doch nicht... Bist du dir sicher? Wie zuverlässig ist diese Information?«
»Sehr zuverlässig, leider, Fürst Gunther.«
»Mein Fürst, das ist Elistan, Kleriker von Paladin«, sagte Michael. »Bitte verzeiht mir, daß ich ihn nicht vorher vorgestellt habe, aber ich war so durcheinander, da er mir diese Nachricht überbracht hat.«
»Ich habe eine Menge über Euch gehört, mein Herr«, sagte Fürst Gunther und reichte dem Mann seine Hand.
Die Augen des Ritters musterten Elistan neugierig. Gunther wußte nicht, was er von einem angeblichen Kleriker Paladins eigentlich erwartet hatte, vielleicht einen kurzsichtigen, blassen, dürren Mann. Gunther war nicht auf diesen hochgewachsenen, gutgebauten Mann vorbereitet, der mit den besten Rittern in die Schlacht reiten könnte. Das uralte Symbol von Paladin – ein Platinmedaillon, auf dem ein Drache eingraviert war – hing um seinen Hals.
Gunther rief sich alles ins Gedächtnis, was er von Sturm über Elistan erfahren hatte, einschließlich der Absicht des Klerikers, zu versuchen, die Elfen vom Bündnis mit den Menschen zu überzeugen. Elistan lächelte müde, als ob er jeden Gedanken Gunthers lesen könnte. Auf Gunthers letzte Gedanken antwortete er.
»Ja, ich habe versagt. Ich konnte sie zwar überzeugen, am Treffen teilzunehmen, aber ich befürchte, sie sind nur hier, um Euch ein Ultimatum zu stellen: entweder freiwillige Rückgabe der Kugel an die Elfen oder Kampf, um sie zurückzuerobern.«
Gunther sank in einen Stuhl und winkte schwach mit einer Hand, damit auch die anderen Platz nahmen. Vor ihm auf einem Tisch lagen Karten von den Ländern Ansalons ausgebreitet, in denen das schleichende Vorrücken der Drachenarmeen markiert war. Gunthers Blick ruhte auf den Karten, dann wischte er sie plötzlich auf den Boden.
»Wir könnten genausogut jetzt aufgeben!« stieß Gunther hervor. »Und den Drachenfürsten eine Botschaft senden: ›Bemüht euch nicht zu kommen, um uns zu vernichten. Wir schaffen das ganz gut allein.‹«
Wütend warf er den Bericht auf den Tisch. »Hier! Aus Palanthas. Die Leute bestehen darauf, daß die Ritter die Stadt verlassen. Die Palanthianer verhandeln mit den Drachenfürsten, und die Gegenwart der Ritter beeinträchtigt ernsthaft ihre Position. Sie weigern sich, uns jegliche Hilfe zu geben. Und so sitzt eine Armee von tausend Palanthianern untätig herum!«
»Und was macht Fürst Derek, Herr?« fragte Michael.
»Er und die Ritter und tausend Gefolgsleute, Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten Trotyls, sichern den Turm des Oberklerikers südlich von Palanthas«, sagte Gunther müde. »Dieser Turm bewacht den einzigen Paß durch die Vingaard-Berge. Wir werden Palanthas eine Zeitlang beschützen, aber wenn die Drachenarmeen durchkommen...« Er stockte. »Verdammt«, flüsterte er und schlug seine Faust auf den Tisch. »Mit zweitausend Männern könnten wir diesen Paß halten! Diese Dummköpfe! Und jetzt das!« Er zeigte in Richtung der Elfenzelte.
Gunther seufzte und legte seinen Kopf in die Hände. »Nun, was rätst du uns, Kleriker?«
Elistan schwieg einen Moment, dann: »In den Scheiben von Mishakal steht geschrieben, daß das Böse, durch seine Natur bedingt, sich immer gegen sich selbst richten wird. Folglich wird es genau das Gegenteil bewirken.« Er legte seine Hand auf Gunthers Schulter. »Ich weiß nicht, was bei dem Treffen herauskommen wird. Meine Götter haben mir das vorenthalten.
Vielleicht wissen sie es selbst nicht; daß die Zukunft der Welt im Gleichgewicht ist, und was wir hier entscheiden, wird maßgebend sein. Ich weiß nur dies: Geh nicht schon mit der Niederlage im Herzen in das Treffen, denn das wird der erste Sieg des Bösen sein.«
Dann erhob sich Elistan und verließ schnell das Zelt, Gunther saß schweigend da, nachdem der Kleriker gegangen war. Ihm war, als ob die ganze Welt still war. Der Wind hatte sich gelegt. Die Gewitterwolken hingen schwer und tief und dämpften alles, so daß selbst der Trompetenruf, der die Morgendämmerung ankündigte, dünn wirkte. Ein Rascheln unterbrach seine Konzentration. Michael sammelte langsam die Karten auf.
Gunther hob seinen Kopf und rieb seine Augen.
»Was denkst du?«
»Worüber? Über die Elfen?«
»Über den Kleriker«, sagte Gunther und starrte aus der Zeltöffnung.
»Es ist sicher nicht das, was ich erwartet habe«, antwortete Michael, sein Blick folgte Gunthers. »Eher wie die Geschichten, die wir über die alten Kleriker gehört haben, jene, die die Ritter in den Tagen vor der Umwälzung geführt haben. Er ist diesen Scharlatanen, die wir jetzt haben, überhaupt nicht ähnlich. Elistan ist ein Mann, der neben dir auf dem Schlachtfeld stehen, mit einer Hand Paladins Segen herabflehen und mit der anderen seine Keule schwingen würde. Er trägt ein Medaillon, das man, seitdem die Götter uns verlassen haben, nicht mehr gesehen hat. Aber ist er wirklich ein Kleriker?« Michael zuckte die Schulter. »Um mich zu überzeugen, ist mehr als ein Medaillon notwendig.«
»Ich stimme dir zu.« Gunther erhob sich und ging zur Zeltöffnung. »Nun, die Zeit ist fast gekommen. Bleib hier, Michael, falls noch mehr Berichte eintreffen.« Er wollte gerade gehen, als er im Zelteingang stehen blieb. »Es ist schon merkwürdig, Michael«, murmelte er, seine Augen folgten Elistan, der nun nur noch ein kleiner Schatten war. »Wir waren immer ein Volk gewesen, das hoffnungsvoll zu den Göttern geschaut hat, ein Volk des Glaubens, das der Magie mißtraute. Doch jetzt sehen wir hoffnungsvoll zur Magie, und wenn eine Möglichkeit auftaucht, unseren Glauben zu erneuern, bezweifeln wir sie.«
Fürst Michael antwortete nicht. Gunther schüttelte den Kopf und ging nachdenklich zur Lichtung von Weißstein.
Wie Gunther sagte, waren die solamnischen Menschen immer gläubige Anhänger der Götter gewesen. Vor langer Zeit, in den Tagen vor der Umwälzung, war die Lichtung von Weißstein eines der heiligen Zentren der Anbetung gewesen. Das Phänomen des weißen Steins hatte schon immer Neugierige angezogen. Istars Königspriester selbst hatte den riesigen weißen Stein gesegnet, der sich inmitten einer ewig grünen Lichtung erhob, ihn für heilig erklärt und allen Sterblichen verboten, ihn zu berühren.
Selbst nach der Umwälzung, als der Glaube an die alten Götter versiegte, blieb die Lichtung ein heiliger Ort. Vielleicht weil nicht einmal die Umwälzung ihn in Mitleidenschaft gezogen hatte. Es hieß, daß der Boden um den Weißstein einstürzte und auseinanderklaffte, der Weißstein aber unzerstört blieb, als das feurige Gebirge vom Himmel stürzte.
So ehrfurchteinflößend war der Anblick des weißen Steins, daß selbst jetzt niemand wagte, sich ihm zu nähern oder ihn zu berühren. Niemand konnte sagen, über welch seltsame Kräfte er verfügte. Man wußte nur, daß die Luft um den Weißstein immer frühlingshaft warm war. Egal, wie kalt der Winter war, das Gras der Weißsteinlichtung war immer grün.
Obwohl sein Herz schwer war, entspannte sich Gunther, als er die Lichtung erreichte und die warme süße Luft einatmete.
Einen Moment lang spürte er noch einmal die Berührung von Elistans Hand auf seiner Schulter, die in ihm das Gefühl inneren Friedens geweckt hatte.
Er blickte sich schnell um und stellte fest, daß alles bereit war. Massive Holzstühle mit Schnitzereien an den Rückenlehnen waren aufgestellt. Für die stimmberechtigten Mitglieder des Treffens standen fünf an der linken Seite des Weißsteins, für die beratenden Mitglieder drei an der rechten. Polierte Bänke für die Zeugen, wie es der Maßstab verlangte, standen dem Weißstein und den Mitgliedern gegenüber.