Ihr Vater antwortete nicht, aber mit seinem kühlen Abschied und mit der Art, wie er am Arm seines ältesten Kindes lehnte, machte er Laurana klar, daß er nur noch ein Kind hatte.
Theros ging mit den Elfen. Nach seiner dramatischen Vorführung der Drachenlanze wurde auf dem Treffen von Weißstein einstimmig entschieden, mehr von diesen Waffen herzustellen und alle Rassen zum Kampf gegen die Drachenarmeen zu verbünden.
»Zur Zeit«, verkündete Theros, »haben wir nur diese wenigen Lanzen, die ich in einem Monat schmieden konnte, und ich bringe mehrere uralte Lanzen, die die Silberdrachen in jener Zeit, als die Drachen von der Welt verbannt worden waren, versteckt haben. Aber wir brauchen mehr – viel mehr. Ich brauche Männer, die mir helfen!«
Die Elfen willigten ein, Männer zur Verfügung zu stellen, um Drachenlanzen herzustellen, gleichgültig, ob sie sich am Kampf beteiligen würden oder nicht.
»Diese Angelegenheit muß noch diskutiert werden«, sagte die Stimme.
»Diskutiert nicht zu lange«, schnappte Flint Feuerschmied, »oder ihr findet euch in der Diskussion mit einem Drachenfürsten wieder.«
»Die Elfen behalten ihre Meinung für sich und bitten nicht um den Rat von Zwergen«, erwiderte die Stimme kühl. »Außerdem wissen wir nicht einmal, ob diese Lanzen funktionieren! In der Legende heißt es, daß sie von Demjenigen mit dem Silberarm geschmiedet werden müssen, das steht fest. Aber es heißt auch, daß der Streitkolben von Kharas zum Schmieden benötigt wird. Wo ist der Streitkolben jetzt?« fragte er Theros.
»Der Streitkolben konnte nicht rechtzeitig geholt werden. Er wurde in alten Zeiten benötigt, weil die Geschicklichkeit der Menschen nicht ausreichte, um diese Lanzen herzustellen. Meine ist ausreichend«, fügte dieser stolz hinzu. »Du hast gesehen, was die Lanze mit dem Stein gemacht hat.«
»Wir werden sehen, was sie gegen Drachen ausrichtet«, entgegnete die Stimme, und das zweite Treffen von Weißstein näherte sich seinem Ende. Gunther schlug zum Schluß vor, die Lanzen, die Theros mitgebracht hatte, den Rittern nach Palanthas zu schicken.
Diese Gedanken gingen Laurana durch den Kopf, während sie auf die trostlose winterliche Landschaft starrte. Bald würde es schneien, hatte Fürst Gunther gesagt.
Ich kann hier nicht bleiben, dachte Laurana und drückte ihr Gesicht gegen das eiskalte Fenster. Ich werde verrückt.
»Ich habe Gunthers Karten studiert«, murmelte sie eher zu sich, »und ich habe die Stellungen der Drachenarmeen gesehen. Tanis wird niemals Sankrist erreichen. Und falls er die Kugel hat, ist er sich wohl gar nicht der Gefahr bewußt. Ich muß ihn warnen.«
»Meine Liebe, du redest unvernünftig«, sagte Elistan sanft.
»Wenn Tanis Sankrist nicht sicher erreichen kann, wie willst du ihn dann erreichen? Denk logisch, Laurana...«
»Ich will aber nicht logisch denken!« schrie Laurana, stampfte mit ihrem Fuß auf und starrte den Kleriker wütend an. »Ich bin es leid, vernünftig zu sein! Ich habe diesen ganzen Krieg satt. Ich habe meinen Teil erfüllt – mehr als meinen Teil. Ich will einfach nur Tanis finden!«
Als Laurana Elistans mitfühlendes Gesicht sah, seufzte sie.
»Es tut mir leid, mein teurer Freund. Ich weiß, du sagst die Wahrheit«, sagte sie beschämt. »Aber ich kann hier nicht bleiben und untätig herumsitzen!«
Obwohl Laurana es nicht erwähnte, hatte sie noch eine andere Sorge. Diese menschliche Frau, diese Kitiara. Wo war sie?
Waren sie zusammen, wie sie es im Traum gesehen hatte? Laurana wurde sich plötzlich bewußt, daß sie das Bild, Kitiara mit Tanis, der seinen Arm um sie gelegt hatte, beunruhigender fand als das Bild ihres eigenen Todes.
In diesem Moment betrat Fürst Gunther den Raum.
»Oh!« sagte er überrascht, als er Elistan und Laurana sah.
»Tut mir leid, ich störe hoffentlich nicht...«
»Nein, komm bitte herein«, sagte Laurana schnell.
»Danke«, sagte Gunther, trat ein und schloß sorgfältig die Tür – nachdem er vorher im Korridor nachgesehen hatte, ob niemand in der Nähe war. Er trat zu ihnen ans Fenster. »In der Tat muß ich mit euch beiden reden. Ich habe Wills nach euch geschickt. Das war, glaube ich, am besten. Keiner weiß, daß wir uns unterhalten.«
Noch mehr Intrigen, dachte Laurana müde. Auf ihrer ganzen Reise zu Gunthers Schloß hatte sie nichts anderes als von den politischen Machtkämpfen gehört, die die Ritterschaft zerstörten.
Schockiert und außer sich vor Wut über Gunthers Geschichte von Sturms Verhandlung, war Laurana vor das Kapitel der Ritter getreten, um zu Sturms Verteidigung zu sprechen. Obwohl vor einer Ritterversammlung noch nie eine Frau erschienen war, waren die Ritter von der wortgewandten Rede der kraftvollen, wunderschönen jungen Frau zugunsten Sturms beeindruckt gewesen. Die Tatsache, daß Laurana ein Mitglied der königlichen Elfenfamilie war und daß sie die Drachenlanzen mitgebracht hatte, sprach nur noch mehr für sie.
Selbst Dereks Anhänger, diejenigen, die nicht nach Palanthas gereist waren, hatten nichts an ihr auszusetzen. Aber die Ritter waren unfähig gewesen, eine Entscheidung zu fällen. Der Mann, der Fürst Alfred in seiner Abwesenheit vertrat, stand eher auf Dereks Seite, und Fürst Michael war so wankelmütig, daß Gunther gezwungen war, die Angelegenheit über eine offene Abstimmung entscheiden zu lassen. Die Ritter verlangten Zeit zum Überlegen, und die Versammlung wurde vertagt. Sie hatten sich an diesem Nachmittag wieder versammelt. Offenbar kam Gunther gerade von dort.
Laurana erkannte an Gunthers Blick, daß die Dinge günstig verlaufen waren. Aber wenn das so war, warum dieses Manöver?
»Sturm wurde begnadigt?« fragte sie.
Gunther grinste und rieb sich die Hände. »Nicht begnadigt, meine Liebe. Das hätte seine Schuld impliziert. Nein. Er wurde völlig entlastet! Das habe ich durchgesetzt. Begnadigung wäre für uns alle nicht günstig gewesen. Ihm wurde die Ritterschaft gewährt. Sein Kommando wurde offiziell bestätigt. Und Derek ist in ernsthaften Schwierigkeiten!«
»Das freut mich für Sturm«, sagte Laurana kühl und warf Elistan einen besorgten Blick zu. Obwohl ihr gefiel, was sie von Fürst Gunther gesehen hatte, war sie selbst in einem königlichen Haushalt aufgewachsen und wußte, daß Sturm zu einer Spielkarte gemacht wurde.
Gunther bemerkte das Eis in ihrer Stimme, und sein Gesicht wurde ernst. »Laurana«, sagte er mit betrübter Stimme. »Ich weiß, was du denkst – daß ich Sturm an Fäden ziehe. Laß uns offen und brutal reden. Die Ritter sind gespalten, geteilt in zwei Lager – Dereks und meins. Und wir beide wissen, was mit einem gespaltenen Baum geschieht: beide Teile welken und sterben. Diese Schlacht zwischen uns muß enden, oder es wird tragisch enden. Nun, Laurana und Elistan, ich habe gelernt, euch zu trauen und mich auf euer Urteil zu verlassen, und so frage ich euch: Ihr habt mich kennengelernt, und ihr habt Fürst Derek Kronenhüter kennengelernt. Wen würdet ihr zum Führer der Ritter wählen?«
»Dich natürlich, Fürst Gunther«, sagte Elistan aufrichtig.
Laurana nickte. »Ich stimme dem zu. Diese Fehde ist für die Ritterschaft zerstörerisch. Das habe ich bei dem Rittertreffen gesehen. Und – was ich von den Berichten aus Palanthas gehört habe – schadet es auch unserer Sache. Meine erste Sorge gilt jedoch meinem Freund.«
»Ich verstehe, und ich bin froh, dich so reden zu hören«, sagte Gunther, »denn dadurch fällt es mir leichter, dich um einen sehr großen Gefallen zu bitten.« Gunther nahm Lauranas Arm.
»Ich möchte, daß du nach Palanthas gehst.«
»Was? Warum? Ich verstehe nicht!«
»Natürlich nicht. Laß mich erklären. Setz dich bitte. Du auch, Elistan. Ich gieße uns Wein ein...«
»Für mich nicht«, sagte Laurana und setzte sich ans Fenster.
»Nun gut.« Gunthers Gesicht wurde wieder ernst. Er legte seine Hand auf Lauranas. »Wir kennen uns mit Politik aus, du und ich. Ich werde all meine Karten vor dir offenlegen. Zum Schein wirst du nach Palanthas reisen, um den Rittern den Gebrauch der Drachenlanzen beizubringen. Das ist ein legitimer Grund. Ohne Theros seid ihr, du und der Zwerg, die einzigen, die etwas davon verstehen. Und – laß uns ehrlich sein – der Zwerg ist zu klein, um mit einer Lanze umzugehen.«