Er war sich immer noch unschlüssig, als sie Treibgut erreichten, und entschied schließlich, erst einmal eine Schiffsfahrt in Richtung Norden zu buchen. Dann könnte man immer noch überlegen, wo man aussteigt.
Aber als sie Treibgut erreichten, waren sie bestürzt. In dieser Stadt gab es mehr Drakonier, als sie auf der ganzen Reise von der Hafenstadt Balifor bis hierher gesehen hatten. Die Straßen wimmelten von schwerbewaffneten Spähtrupps, die insbesondere nach Fremden Ausschau hielten. Glücklicherweise hatten die Gefährten ihren Wagen vor Betreten der Stadt verkauft, so daß sie sich unter die Menge in den Straßen mischen konnten. Aber sie waren nicht einmal fünf Minuten in der Stadt, als sie einen Drakoniertrupp einen Menschen zum ›Verhör‹ holen sahen.
Dieser Vorfall beunruhigte sie, und sie quartierten sich im nächstbesten Wirtshaus ein – einer heruntergekommenen Herberge am Stadtrand.
»Wie sollen wir überhaupt zum Hafen gelangen, geschweige denn eine Überfahrt aushandeln?« fragte Caramon in ihrem schäbigen Zimmer. »Wie soll es weitergehen?«
»Der Wirt sagt, daß sich in der Stadt ein Drachenfürst aufhält. Die Drakonier suchen Kundschafter oder so etwas«, murmelte Tanis unruhig. Die Gefährten tauschten Blicke.
»Vielleicht suchen sie uns«, sagte Caramon.
»Das ist lächerlich!« antwortete Tanis schnell – zu schnell.
»Wie sollte jemand wissen, daß wir hier sind? Oder wissen, was wir bei uns haben?«
»Ich frage mich...«, begann Flußwind grimmig und warf Raistlin einen düsteren Blick zu.
Der Magier erwiderte den Blick kühl, ließ sich aber nicht zu einer Antwort herab. »Heißes Wasser für meinen Tee«, befahl er Caramon.
»Mir fällt nur eine Möglichkeit ein«, sagte Tanis, nachdem Caramon seinem Bruder das Wasser gebracht hatte. »Caramon und ich werden uns heute nacht hinausschleichen und zwei Soldaten der Drachenarmee auflauern. Wir stehlen ihre Uniformen. Nicht von den Drakoniern...«, fügte er hastig hinzu, als er sah, wie sich Caramons Augenbrauen vor Abscheu zusammenzogen. »Von menschlichen Söldnern. Dann können wir uns frei in Treibgut bewegen.«
Nach langer Diskussion kamen alle überein, daß nur dieser Plan funktionieren könnte. Die Gefährten aßen ohne viel Appetit in ihren Zimmern, es war ihnen zu riskant, sich im Gastraum zu zeigen.
»Geht es dir gut?« fragte Caramon Raistlin besorgt, als die beiden allein in ihrem Zimmer waren.
»Ich bin in der Lage, auf mich aufzupassen«, erwiderte Raistlin. Er erhob sich mit seinem Zauberbuch in der Hand, als ihn ein Hustenanfall überwältigte.
Caramon streckte seine Hand aus, aber Raistlin schreckte zurück.
»Verschwinde!« keuchte der Magier. »Laß mich allein!«
Caramon zögerte, dann seufzte er. »Sicher, Raist«, sagte er und verließ den Raum.
Raistlin stand einen Moment da und versuchte durchzuatmen.
Dann ging er langsam durch das Zimmer, legte das Zauberbuch hin. Mit zitternder Hand hob er einen der vielen Beutel auf, die Caramon auf den Tisch neben seinem Bett gelegt hatte. Er öffnete ihn und holte vorsichtig die Kugel der Drachen hervor.
Tanis und Caramon liefen durch die Straßen von Treibgut und hielten nach zwei Soldaten Ausschau, deren Uniform ihnen passen könnte. Für Tanis würde es relativ leicht sein, aber einen Soldaten zu finden, der genauso groß wie Caramon war, das war schon schwieriger.
Beide wußten, sie mußten schnell etwas finden. Mehr als einmal wurden sie argwöhnisch von Drakoniern gemustert.
Zwei Drakonier hielten sie sogar an und fragten äußerst unhöflich, was sie hier zu suchen hätten. Caramon erwiderte im groben Söldnerdialekt, daß sie Beschäftigung in der Armee des Drachenfürsten suchten, und die Drakonier ließen sie frei. Aber beide wußten, es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein Trupp sie festnehmen würde.
»Was ist hier bloß los?« murmelte Tanis besorgt.
»Vielleicht spitzt sich der Krieg für die Fürsten zu«, begann Caramon. »Schau mal, Tanis. Was da in die Bar geht...«
»Ja, der hat ungefähr deine Größe. Komm, wir verstecken uns hier in der Gasse. Wir warten, bis sie herauskommen, dann...« Der Halb-Elf machte eine würgende Bewegung. Caramon nickte. Die zwei schlichen durch die schmutzigen Straßen und verschwanden in der Gasse, wo sie nicht gesehen werden und gleichzeitig die Eingangstür der Bar im Auge behalten konnten.
Es war fast Mitternacht. Die Monde waren heute nicht aufgegangen. Der Regen hatte aufgehört, aber Wolken verdunkelten immer noch den Himmel. Die zwei Männer in der Gasse zitterten bald trotz ihrer schweren Umhänge. Ratten flitzten zu ihren Füßen vorbei und ließen sie in der Dunkelheit zusammenzukken. Ein betrunkener Hobgoblin machte eine ungeschickte Bewegung, stolperte, fiel kopfüber in einen Abfallhaufen und blieb darin liegen. Tanis und Caramon wurde übel von dem Gestank, aber sie wagten nicht, ihr Versteck zu verlassen.
Dann hörten sie Gelächter von Betrunkenen und menschliche Stimmen in der Umgangssprache sprechen. Die zwei Soldaten, auf die sie warteten, torkelten aus der Bar und stolperten auf sie zu.
Eine riesige Kohlentonne war zur Nachtbeleuchtung auf dem Gehweg aufgestellt. Die Söldner torkelten auf das Licht zu, und Tanis konnte sie besser sehen. Es waren Offiziere der Drachenarmee. Er vermutete, daß sie gerade befördert worden waren und dies gefeiert hatten. Ihre Rüstungen glänzten neu und waren relativ sauber und unverbeult. Es waren gute Rüstungen, erkannte Tanis zufrieden. Aus blauem Stahl hergestellt, im Stil der Drachenschuppenrüstung der Fürsten.
»Bereit?« flüsterte Caramon. Tanis nickte.
Caramon zog sein Schwert. »Elfenabschaum!« brüllte er.
»Ich habe dich entlarvt, und jetzt kommst du mit zum Drachenfürsten, du Spion!«
»Lebend bekommst du mich nicht!« Tanis zog sein Schwert.
Bei diesem Geschrei blieben die zwei Offiziere taumelnd stehen und starrten mit trüben Augen in die dunkle Gasse.
Die Offiziere beobachteten mit wachsendem Interesse den Kampf zwischen Caramon und Tanis. Als Caramon mit dem Rücken zu den Offizieren stand, machte der Halb-Elf eine plötzliche Bewegung. Er entwaffnete Caramon und ließ das Schwert des Kriegers auf den Boden fallen.
»Schnell! Helft mir, ihn festzunehmen!« bellte Caramon. »Auf ihn ist eine Belohnung ausgesetzt – tot oder lebendig!«
Die Offiziere zauderten nicht. Betrunken, wie sie waren, suchten sie nach ihren Waffen und steuerten auf Tanis zu, ihre Gesichter in grausamem Vergnügen verzerrt.
»Macht schon! Haltet ihn auf!« drängte Caramon und wartete, bis sie an ihm vorbei waren. Dann – gerade als sie ihre Schwerter erhoben – griffen Caramons riesige Hände um ihre Hälse. Er schlug ihre Köpfe zusammen, und die Körper sackten auf den Boden.
»Beeil dich!« knurrte Tanis. Er zog einen Körper an den Füßen ins Dunkle. Caramon folgte mit dem anderen. Schnell zogen sie den beiden die Rüstungen aus.
»Puh! Das muß ein Halbtroll gewesen sein«, sagte Caramon und wedelte mit einer Hand in der Luft, um den faulen Gestank zu vertreiben.
»Hör auf, dich zu beschweren!« schimpfte Tanis und versuchte herauszufinden, wie das komplizierte System von Schnallen und Gurten funktionierte. »Du bist wenigstens daran gewöhnt, dieses Zeug zu tragen. Hilfst du mir?«
»Sicher.« Caramon grinste. »Ein Elf im Plattenpanzer. Was ist nur aus dieser Welt geworden?«
»Traurige Zeiten«, murrte Tanis. »Wann können wir dieses Schiff erwarten, von dem Kapitän William dir erzählt hat?«
»Er sagte, wir könnten sie bei Tagesanbruch an Bord finden.«
»Ich heiße Maquesta Kar-Thon«, sagte die Frau, ihr Gesichtsausdruck war kühl und geschäftsmäßig. »Und – laßt mich raten – ihr seid keine Offiziere der Drachenarmee. Oder sie heuern jetzt sogar schon Elfen an.«