Es war keine Zeit gewesen, Särge zu bauen. Alle wußten, daß die Drachenarmee zurückkehren würde. Die Ritter mußten die Zeit nutzen, um die zerstörten Mauern der Festung zu richten.
Sie trugen die Leichname ihrer Kameraden hinunter in die Kammer des Paladin, legten sie in langen Reihen auf den kalten Steinboden und bedeckten sie mit uralten Leichentüchern. Das Schwert jedes toten Ritters wurde auf seine Brust gelegt, während etwas aus dem Besitz des Feindes – ein Pfeil, ein zerbeulter Schild oder die Klaue eines Drachen – zu seinen Füßen gelegt wurde.
Nachdem die Leichname in der Kammer waren, versammelten sich die Ritter. Sie standen bei den Toten, jeder neben dem Leichnam eines Freundes, eines Kameraden, eines Bruders. Es war so still, daß jeder Mann sein eigenes Herz schlagen hören konnte, als die letzten drei Leichname nach unten gebracht wurden. Sie wurden auf Bahren getragen und von einer Ehrenwache begleitet.
Eigentlich hätte ein großes Begräbnis stattfinden müssen, mit allem Drum und Dran, wie es der Maßstab vorschreibt. Am Altar hätte der Großmeister, in die zeremonielle Rüstung gekleidet, stehen müssen. Neben ihm hätte der Oberkleriker in Rüstung und der weißen Robe eines Klerikers von Paladin stehen müssen. Und der Hochrichter hätte da sein müssen, mit seiner Rüstung und der schwarzen Robe der Gerechtigkeit. Der Altar hätte mit Rosen geschmückt sein müssen, mit den goldenen Emblemen des Eisvogels, der Krone und des Schwerts.
Aber am Altar stand nur ein Elfenmädchen in einer Rüstung, die zerbeult und blutverschmiert war. Neben ihr standen ein alter Zwerg, den Kopf in tiefer Trauer gesenkt, und ein Kender, sein spitzbübisches Gesicht von Gram zerfurcht. Die einzige Rose auf dem Altar war eine schwarze, die man in Sturms Gürtel gefunden hatte; der einzige Schmuck war eine silberne Drachenlanze, mit schwarzem Blut verklebt.
Die Wachen trugen die Leichname nach vorn und setzten die Bahren ehrfürchtig vor den drei Freunden ab.
Zur Rechten lag der Körper von Lord Alfred Merkenin, sein verstümmelter Leichnam war mit weißem Leinen bedeckt. Zur Linken lag Lord Derek Kronenhüter, sein Körper war mit einem weißen Tuch verhüllt, um sein entsetzliches Grinsen, das der Tod in seinem Gesicht eingefroren hatte, zu verbergen. In der Mitte lag der Leichnam von Sturm Feuerklinge. Er war nicht mit weißem Leinen bedeckt. Er lag in seiner Rüstung, die er bei seinem Tod getragen hatte, der Rüstung seines Vaters. Seines Vaters uraltes Schwert lag auf seiner zerschmetterten Brust.
Daneben lag sein Schmuckstück, etwas, das die Ritter nicht erkannten.
Es war der Sternenjuwel, den Laurana im blutdurchtränkten Schnee gefunden hatte. Der Juwel war dunkel, sein Funkeln verblaßte bereits, als Laurana ihn in ihrer Hand hielt. Viele Dinge wurden ihr später klar, als sie den Sternenjuwel untersuchte. Das war also der Grund, warum sie den Traum in Silvanesti geteilt hatten. Hatte Sturm um seine Macht gewußt? Wußte er von der Verknüpfung, die zwischen ihm und Alhana geschmiedet wurde? Nein, dachte Laurana traurig, er hatte es vermutlich nicht gewußt. Ihm konnte auch nicht bewußt gewesen sein, daß der Juwel ein Symbol der Liebe war. Kein Mensch konnte das wissen. Sorgfältig legte sie den Juwel auf seine Brust, als sie mit Trauer an die dunkelhaarige Elfe dachte, die wissen mußte, daß das Herz, auf dem der Sternenjuwel ruhte, für immer zu schlagen aufgehört hatte.
Die Ehrenwache trat zurück und wartete. Die versammelten Ritter standen einen Moment mit gebeugten Häuptern da, dann sahen sie zu Laurana.
Nun wäre die Zeit für stolze Reden gekommen, für die Aufzählung der Heldentaten der toten Ritter. Aber eine Zeitlang hörten sie nur das schnaufende Schluchzen des alten Zwergs und Tolpans leises Schniefen. Laurana sah auf Sturms friedliches Gesicht, und sie brachte keinen Ton heraus.
Einen Moment lang beneidete sie Sturm, beneidete ihn heftig. Er brauchte keine Schmerzen mehr zu ertragen, nicht mehr zu leiden, nicht mehr einsam zu sein. Sein Krieg war ausgefochten. Er hatte gesiegt.
Du hast mich verlassen! weinte Laurana in Qualen. Hast mich allein gelassen, mit allem fertig zu werden. Erst Tanis, dann Elistan, jetzt du. Ich kann nicht mehr. Ich bin nicht stark genug! Betrug und Heuchelei! Ich lasse dich nicht gehen! Nicht so ohne weiteres! Nicht ohne Wut!
Laurana hob ihren Kopf, ihre Augen glühten im Fackelschein.
»Ihr erwartet eine prächtige Rede«, sagte sie, ihre Stimme war so kalt wie die Luft in der Grabesstätte. »Eine prächtige Rede zu Ehren der heldenhaften Taten dieser Männer, die gestorben sind. Nun, ihr werdet sie nicht hören. Nicht von mir!«
Die Ritter tauschten Blicke, ihre Gesichter verdunkelten sich.
»Diese Männer, die in einer Bruderschaft vereinigt sein sollten, die gegründet wurden, als Krynn jung war, starben in bitterer Unstimmigkeit, hervorgerufen durch Stolz, Ehrgeiz und Gier. Eure Augen richten sich auf Derek Kronenhüter, aber ihm ist nicht allein die Schuld zu geben. Euch. Euch allen! Jeder einzelne von euch, der diesem rücksichtslosen Kampf um Macht zugestimmt hat.«
Einige der Ritter senkten ihre Köpfe, andere erblaßten vor Scham oder vor Wut. Laurana erstickte fast an ihren Tränen.
Dann fühlte sie Flints Hand die ihre tröstend drücken. Sie schluckte und holte tief Luft.
»Nur ein Mann stand darüber. Nur ein Mann unter euch lebte den Kodex jeden Tag seines Lebens. Und die meiste Zeit war er kein Ritter. Beziehungsweise er war ein Ritter, nämlich da, wo es das meiste bedeutet – im Geist, im Herzen und nicht in einer offiziellen Liste.«
Laurana griff hinter sich und nahm die blutbefleckte Drachenlanze vom Altar. Sie hob sie hoch über ihren Kopf, und dabei hob sich auch ihre Stimmung. Die Schatten der Dunkelheit um sie hatten sich gelüftet. Als sie wieder sprach, starrten die Ritter sie verwundert an. Ihre Schönheit beglückte sie wie die Schönheit eines erwachenden Frühlingstages.
»Morgen werde ich diesen Ort verlassen«, sagte Laurana leise, ihre strahlenden Augen waren auf die Drachenlanze gerichtet. »Ich gehe nach Palanthas. Ich werde dort die Geschichte des heutigen Tages erzählen! Ich nehme diese Lanze und den Kopf eines Drachen mit. Ich werde diesen unheilvollen, blutigen Kopf auf die Stufen ihres wunderschönen Palastes werfen. Ich werde auf dem Drachenkopf stehen und sie zwingen, mir zuzuhören! Und Palanthas wird zuhören! Sie werden die Gefahr sehen! Und dann gehe ich nach Sankrist und nach Ergod und zu allen anderen Plätzen in dieser Welt, wo die Leute sich weigern, ihre nichtigen Haßgefühle zu vergessen und sich zu verbünden. Denn solange wir das Böse in uns nicht bekämpfen – so wie dieser Mann es tat -, so lange werden wir niemals dieses Böse besiegen, das uns zu verschlingen droht!«
Laurana hob ihre Hände und ihre Augen zum Himmel. »Paladin!« rief sie, ihre Stimme hallte wie ein Trompetenruf. »Wir kommen zu dir, Paladin, und begleiten die Seelen dieser ehrenhaften Ritter, die im Turm des Oberklerikers ihr Leben ließen. Gib uns, den in dieser vom Krieg zerrissenen Welt Zurückgebliebenen, die gleiche Ehrenhaftigkeit, die den Tod dieses Mannes auszeichnet!«
Laurana schloß ihre Augen, Tränen liefen über ihre Wangen.
Sie konnte nicht mehr um Sturm trauern. Ihre Trauer galt ihr selbst, dem Fehlen seiner Gegenwart, daß sie Tanis vom Tod seines Freundes erzählen mußte, daß sie in dieser Welt ohne diesen ehrenhaften Freund an ihrer Seite leben mußte.
Langsam legte sie die Lanze auf den Altar. Dann kniete sie davor nieder, spürte Flints Arm um ihre Schultern und Tolpans sanfte Berührung ihrer Hand.
Als sie betete, hörte sie die Ritter hinter sich ihre Stimmen mit eigenen Gebeten zu dem großen und uralten Gott Paladin erheben.
Dann gingen die Ritter langsam und feierlich nacheinander nach vorn, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen, jeder kniete einen Moment vor dem Altar. Dann verließen die Ritter von Solamnia die Kammer des Paladin und kehrten zu ihren Ruhelagern zurück, um noch etwas Schlaf vor der Morgendämmerung zu finden.