»Wir werden nach Norden ziehen«, sagte er schließlich. »Wir werden die beiden bis zum Scheideweg begleiten, dann können wir weiter entscheiden. Sie können dann südöstlich nach Haven weiterziehen, falls sie es wünschen. Ich für meinen Teil will weiter in den Norden. Ich will mich vergewissern, ob die Gerüchte wahr sind, daß sich dort Soldaten sammeln.« »Und vielleicht, um auf Kitiara zu treffen«, flüsterte Raistlin hinterhältig.
Tanis errötete. »Ist der Plan in Ordnung?« fragte er und sah die anderen an.
»Obwohl du nicht der Älteste von uns bist, Tanis, so bist du doch der Klügste«, sagte Sturm. »Wir folgen dir – wie immer.«
Caramon nickte. Raistlin steuerte bereits auf die Tür zu. Flint schulterte brummend den Weinschlauch.
Tanis spürte eine sanfte Hand seinen Arm berühren. Er wandte sich um und sah in die klaren blauen Augen der wunderschönen Barbarin. »Wir danken euch«, sagte Goldmond langsam, als ob sie es nicht gewohnt wäre, Dankbarkeit zu zeigen. »Ihr riskiert euer Leben für uns, obwohl wir Fremde sind.«
Tanis lächelte und drückte ihre Hand. »Ich heiße Tanis. Das dort sind die Brüder Caramon und Raistlin. Der Ritter heißt Sturm Feuerklinge. Flint Feuerschmied trägt den Wein, und Tolpan Barfuß ist unser kluger Schlosser. Du bist Goldmond, und er heißt Flußwind. Nun - wir sind nicht länger Fremde.« Goldmond lächelte müde. Sie strich über seinen Arm und ging dann zur Tür, stützte sich dabei auf ihren Stab, der wieder normal und nichtssagend aussah. Tanis sah ihr nach, dann zu Flußwind, der ihn anstarrte, das dunkle Gesicht eine undurchdringbare Maske.
»Nun«, fügte Tanis stumm hinzu, »einige von uns sind keine Fremden mehr.«
Bald waren alle draußen. Tolpan führte sie. Tanis stand einen Moment lang allein im verwüsteten Wohnzimmer und starrte auf die Leichen der Goblins. Eigentlich sollte es eine friedliche Heimkehr nach bitteren Jahren des einsamen Wanderns werden. Er dachte an sein behagliches Heim. Er dachte an all die Dinge, die er sich vorgenommen hatte - Dinge, die er gemeinsam mit Kitiara machen wollte. Er dachte an lange Winterabende, mit Geschichtenerzählen am Feuer im Wirtshaus, dann nach Hause gehen, zusammen unter den Felldecken lachen, in den verschneiten Morgen schlafen...
Tanis trat nach den glühenden Kohlen und verstreute sie. Kitiara war nicht zurückgekehrt. Goblins hatten seine friedliche Stadt besetzt. Er floh in die Nacht, um einem Haufen gläubiger Fanatiker zu entkommen, und mit aller Wahrscheinlichkeit würde er niemals zurückkehren können.
Elfen bemerken nicht das Fließen der Zeit. Sie leben Hunderte von Jahren. Für sie vergehen die Jahreszeiten wie ein kurzer Regenschauer. Aber Tanis war ein Halbmensch. Er spürte eine Veränderung nahen, fühlte die beunruhigende Ruhelosigkeit, die Menschen vor einem Gewitter empfinden.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann trat er hinaus durch die zerstörte Tür, die nur noch in einer Angel hing.
6
Flints Abschied. Pfeile fliegen. Botschaft in den Sternen
Tanis schwang sich über die Veranda und ließ sich durch die Äste auf den Boden fallen. Die anderen warteten in der Dunkelheit verborgen, abseits vom Licht der Straßenlaternen. Ein kühler Nordwind war aufgekommen. Tanis sah sich um und bemerkte andere Lichter, die Lampen der Suchtrupps. Er zog die Kapuze über sein Gesicht und eilte vorwärts. »Der Wind hat sich gedreht«, sagte er. »Spätestens morgen wird es regnen.« Er schaute zu der kleinen Gruppe, auf die das unheimliche, wild tanzende Licht der vom Wind hin- und hergeschaukelten Laternen fiel. Goldmonds Gesicht war vor Müdigkeit verzerrt, Flußwinds Gesicht eine unerschütterliche Maske der Stärke, aber seine Schultern waren nach vorn gesunken. Raistlin stand zitternd an einen Baum gelehnt und holte keuchend Luft.
Tanis zog seinen Kopf vor dem Wind ein. »Wir müssen eine Zuflucht suchen«, sagte er. »Einen Platz zum Ausruhen.« »Tanis...« Tolpan zog am Umhang des Halb-Elfs. »Wir könnten ein Boot nehmen. Der Krystalmir-See ist nicht weit entfernt. Auf der anderen Seite sind Höhlen, und wir kürzen unseren morgigen Marsch ab.«
»Das ist eine gute Idee, Tolpan, aber wir haben kein Boot.« »Kein Problem.« Der Kender grinste. Sein kleines Gesicht und seine spitzen Ohren ließen ihn in dem unheimlichen Licht noch spitzbübischer aussehen. Tolpan genießt das alles, dachte Tanis. Ich sollte den Kender durchschütteln und ihm klarmachen, in welcher Gefahr wir uns befinden. Aber der Halb-Elf wußte, daß das sinnlos war: Kender sind gegen Angst immun. »Das mit dem Boot ist eine gute Idee«, wiederholte Tanis nach kurzer Überlegung. »Du führst uns. Und sag Flint nichts davon«, fügte er hinzu. »Ich kümmere mich schon um ihn.« »In Ordnung«, kicherte Tolpan und glitt zu den anderen zurück. »Folgt mir«, rief er gedämpft und flitzte los. Flint, der in seinen Bart brummte, stapfte hinter dem Kender. Goldmond folgte dem Zwerg. Flußwind warf einen kurzen durchdringenden Blick auf jeden einzelnen und ging dann der Frau nach. »Ich denke, er traut uns nicht«, bemerkte Caramon.
»Würdest du es?« fragte Tanis und blickte kurz zu dem riesigen Mann. Caramons Drachenhelm schimmerte im flackernden Licht; sein Kettenpanzer wurde sichtbar, sobald der Wind seinen Umhang zurückblies. Sein Langschwert schlug gegen seine kräftigen Oberschenkel, ein kurzer Bogen und ein Köcher mit Pfeilen baumelten über seine Schulter, ein Dolch ragte aus seinem Gürtel. Sein Schild trug die Beulen und Dellen vieler Kämpfe. Der Riese war zu allem bereit.
Tanis sah zu Sturm hinüber, der stolz das Waffenkleid einer Ritterschaft trug, die vor dreihundert Jahren in Ungnade gefallen war. Obwohl Sturm nur vier Jahre älter war als Caramon, hatten sein strenges, diszipliniertes Leben, die Härten der Armut und seine melancholische Suche nach seinem geliebten Vater ihn über die Jahre hinaus altern lassen. Mit seinen neunund-zwanzig Jahren sah er wie vierzig aus. Tanis dachte, ich glaube nicht, daß ich einem von uns trauen würde.
»Wie sieht der Plan aus?« fragte Sturm.
»Wir fahren mit einem Boot«, antwortete Tanis.
»Oh!« kicherte Caramon. »Hast du es Flint schon gesagt?« »Nein. Überlaß das nur mir.«
»Woher bekommen wir ein Boot?« fragte Sturm argwöhnisch. »Du wirst glücklicher sein, wenn du es nicht weißt«, antwortete der Halb-Elf. Der Ritter runzelte die Stirn. Seine Augen folgten dem Kender, der weit vorn war und von einem Schatten zum nächsten huschte. »Mir gefällt das nicht, Tanis. Erst sind wir Mörder, und jetzt werden wir auch noch Diebe.«
»Ich betrachte mich nicht als Mörder«, schnaubte Caramon verächtlich. »Goblins zählen nicht.«
Tanis sah, wie der Ritter Caramon anstarrte. »Mir gefällt es auch nicht, Sturm«, sagte er hastig und hoffte, einen Streit zu verhindern. »Aber man zwingt uns dazu. Nimm die Barbaren – ihr Stolz ist das einzige, was sie noch aufrecht hält. Nimm Raistlin...« Ihre Augen fuhren zum Magier, der durch das Laub schlurfte und sich dabei nur im Schatten bewegte, gestützt auf seinen Stab. Gelegentlich peinigte ein trockener Husten seinen zerbrechlichen Körper.
Caramons Gesicht verdüsterte sich. »Tanis hat recht«, sagte er leise. »Raist schafft es kaum noch. Ich muß zu ihm.« Er verließ Ritter und Halb-Elf und eilte nach vorn, um die verhüllte, gebeugte Gestalt seines Zwillingsbruders einzuholen. »Laß mich dir helfen, Raist«, hörten sie Caramon wispern. Raistlin schüttelte seinen Kopf und entzog sich der Berührung seines Bruders. Caramon zuckte zusammen und ließ seinen Arm fallen. Aber der Krieger blieb dicht bei seinem schwachen Bruder, bereit, ihm im Notfall beizuspringen.
»Warum läßt er sich das gefallen?« fragte Tanis leise. »Familie. Blutsbande.« Sturm klang nachdenklich. Er schien mehr sagen zu wollen, aber seine Augen richteten sich auf Tanis' Elfengesicht mit dem menschlichen Barthaar, und er schwieg. Tanis sah den Blick und wußte, was der Ritter gedacht hatte: Familie, Blutsbande – Dinge, von denen der verwaiste Halb-Elf keine Ahnung hatte.