»Komm weiter«, sagte Tanis abrupt. »Wir fallen zu weit zurück.« Bald hatten sie die Vallenholzbäume von Solace hinter sich gelassen und betraten den Kiefernwald, der den Krystalmir-See umgab. Tanis konnte weit hinter sich gedämpfte Schreie hören. »Sie haben die Leichen gefunden«, vermutete er. Sturm nickte düster. Plötzlich schien sich Tolpan aus der Dunkelheit direkt unter der Nase des Halb-Elfen zu materialisieren.
»Der Pfad verläuft etwas mehr als eine Meile zum See«, sagte Tolpan. »Ich werde euch dort treffen.« Er machte eine vage Handbewegung und verschwand wieder, bevor Tanis irgend etwas sagen konnte. Der Halb-Elf sah nach Solace zurück. Es schienen jetzt noch mehr Lichter zu sein, und sie bewegten sich in ihre Richtung. Die Straßen waren wahrscheinlich schon dichtgemacht.
»Wo ist der Kender?« brummte Flint, als sie in den Wald eintauchten. »Tolpan wird uns am See treffen«, erwiderte Tanis.
»See?« Flints Augen wurden vor Unruhe größer. »Was für ein See?«
»Es gibt hier nur einen See, Flint«, sagte Tanis und bemühte sich angestrengt, Sturm nicht zuzugrinsen. »Komm schon. Wir sollten lieber weitergehen.« Seine Elfenaugen sichteten den breiten roten Umriß von Caramon und den schmaleren roten Schatten seines Bruders, die in den dichten Wald verschwanden. »Ich dachte, wir würden uns ein ruhiges Plätzchen im Wald suchen.« Flint schob sich an Sturm vorbei, um sich bei Tanis zu beschweren.
»Wir werden ein Boot nehmen.« Tanis ging weiter.
»O nein!« knurrte Flint. »Ich werde kein Boot besteigen!« »Dieser Unfall ist vor zehn Jahren passiert!« sagte Tanis wütend. »Sieh mal! Caramon wird ganz ruhig sitzen.« »Absolut nicht!« sagte der Zwerg entschieden. »Keine Boote. Ich habe ein Gelübde abgelegt.«
»Tanis«, flüsterte Sturm von hinten. »Lichter.«
»Angriff!« Der Halb-Elf hielt inne und drehte sich um. Er mußte einen Augenblick warten, bis er die Lichter durch die Bäume schimmern sehen konnte. Ihre Verfolger waren näher gekommen. Er eilte nach vorn, um Caramon, Raistlin und die Barbaren einzuholen.
»Lichter!« rief er in einem durchdringenden Flüstern. Caramon blickte zurück und fluchte. Flußwind hob bestätigend die Hand. »Leider müssen wir jetzt schneller gehen, Caramon...«, begann Tanis.
»Wir schaffen das schon«, erwiderte der Krieger gelassen. Er stützte jetzt seinen Bruder, sein Arm lag um Raistlins schmalen Körper, praktisch trug er ihn. Raistlin hustete leise, aber er bewegte sich nicht. Sturm erreichte Tanis. Als sie ihren Weg durch das Gebüsch schlugen, konnten sie Flint hören, der hinter ihnen keuchte und ärgerlich Selbstgespräche führte. »Er wird nicht mitkommen, Tanis«, sagte Sturm. »Flint hat eine Todesangst vor Booten, seitdem Caramon ihn damals versehentlich fast ertränkt hat. Du warst nicht dabei. Du hast ihn nicht erlebt, als wir ihn wieder herauszogen.«
»Er wird mitkommen«, sagte Tanis schwer atmend. »Er kann uns junges Gemüse nicht allein der Gefahr überlassen.« Sturm schüttelte zweifelnd den Kopf.
Tanis sah sich wieder um. Er konnte jetzt keine Lichter erkennen, wußte aber, daß sie nun tief im Wald waren. Truppführer Toede würde wohl niemanden mit seiner Intelligenz beeindrucken, aber man brauchte auch nicht viel Intelligenz, um sich auszurechnen, daß ihre Gruppe sich für den Wasserweg entscheiden würde. Tanis hielt plötzlich inne, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. »Was ist das?« flüsterte er. »Wir sind da«, antwortete Caramon. Tanis atmete erleichtert auf, als er den Krystalmir-See erblickte. Der Wind peitschte das Wasser zu weißen Schaumkronen auf.
»Wo ist Tolpan?«
»Dort drüben, glaube ich.« Caramon deutete auf einen dunklen Umriß, der dicht am Ufer trieb. Tanis konnte den Kender in dem großen Boot kaum ausmachen.
Die Sterne strahlten mit eisiger Helligkeit vom blauschwarzen Himmel. Lunitari, der rote Mond, stieg wie ein blutiger Fingernagel aus dem Wasser empor. Solinari, sein Partner im Nachthimmel, war bereits aufgegangen und markierte den See wie mit geschmolzenem Silber.
»Was für herrliche Zielscheiben wir abgeben werden!« sagte Sturm gereizt.
Tanis konnte Tolpan erkennen, der suchend auf ihre Richtung zusteuerte. Der Halb-Elf bückte sich, um einen Stein in der Dunkelheit zu suchen. Nachdem er einen gefunden hatte, warf er ihn ins Wasser. Er spritzte nur einige wenige Meter vor dem Boot auf. Tolpan reagierte auf Tanis' Signal und steuerte das Boot auf das Ufer zu.
»Du willst uns alle in ein Boot setzen!« sagte Flint voller Angst. »Du bist verrückt, Halb-Elf!«
»Es ist ein großes Boot«, erwiderte Tanis.
»Nein! Da mache ich nicht mit. Selbst wenn es eines der legendären weißgeflügelten Boote von Tarsis wäre, würde ich immer noch nicht einsteigen. Lieber lasse ich es auf eine Begegnung mit dem Theokraten ankommen!«
Tanis ignorierte den aufgebrachten Zwerg. »Steigt alle so schnell wie möglich ein. Wir müssen in ein paar Minuten weg sein.«
»Es darf nicht zu lange dauern«, warnte Sturm. »Hört!« »Ich kann es hören«, sagte Tanis grimmig. »Geh weiter.« »Was sind das für Geräusche?« fragte Goldmond den Ritter, als er zu ihr trat.
»Suchtrupps der Goblins«, antwortete Sturm. »Mit diesen Flöten halten sie untereinander Kontakt, wenn sie sich trennen. Sie sind schon sehr nahe.«
Goldmond nickte verstehend. Sie sprach einige Worte zu Flußwind in ihrer eigenen Sprache, offensichtlich eine Unterhaltung, die Sturm unterbrochen hatte. Der riesige Barbar runzelte die Stirn und gestikulierte in Richtung Wald. Er versucht sie zu überzeugen, sich von uns zu trennen, erkannte Sturm. Vielleicht verfügt er über ausreichende Kennt' nisse, um sich tagelang vor den Goblins in den Wäldern zu verbergen; aber er bezweifelte das. »Flußwind, gue-lando!« sagte Goldmond scharf. Sturm hörte Flußwind vor Wut knurren. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging auf das Boot zu. Goldmond seufzte und sah ihm nach, in ihrem Gesicht war tiefe Trauer.
»Kann ich Euch helfen, meine Dame?« fragte Sturm sanft. »Nein«, erwiderte sie. Dann sagte sie traurig, mehr zu sich »Er beherrscht mein Herz, aber ich bin seine Herrscherin. Einst als wir noch Kinder waren, dachten wir, daß wir das vergessen könnten. Aber ich bin schon zu lange die Tochter des Stammeshäuptlings.«
»Warum traut er uns nicht?« fragte Sturm.
»Er hat alle Vorurteile unseres Volkes«, erwiderte Goldmond. »Die Barbaren trauen den nichtmenschlichen Wesen nicht.« Sie sah zurück. »Tanis kann trotz seines Bartes seine Elfenherkunft nicht verbergen. Und dann sind da noch der Zwerg: und der Kender.«
»Und wie steht es mit Euch?« fragte Sturm. »Warum traut Ihr uns? Habt Ihr nicht dieselben Vorurteile?«
Goldmond wandte ihm ihr Gesicht zu. Er konnte ihre Augen sehen, dunkel und schimmernd wie der See hinter ihr. »Als ich ein Mädchen war«, sagte sie mit tiefer, leiser Stimme, »war ich die Prinzessin meines Volkes. Ich war Priesterin. Sie verehrten mich als Göttin. Ich glaubte ihnen. Ich betete sie an. Dann pas-sierte etwas...« Sie brach ab, ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen.
»Was passierte?« drängte Sturm sanft.
»Ich verliebte mich in einen Schäfer«, antwortete Goldmond und sah zu Flußwind. Sie seufzte und ging zum Boot.
Sturm sah Fluß wind in das Wasser waten, um das Boot näher an das Ufer zu ziehen. Raistlin umklammerte zitternd sein Gewand. »Meine Füße dürfen nicht naß werden«, flüsterte er heiser. Caramon antwortete nicht. Er legte einfach seine riesigen Arme um seinen Bruder und hob ihn wie ein Kind sanft hoch und setzte ihn ins Boot. Der Magier verkroch sich im hinteren Teil des Bootes, ohne ein Wort des Dankes.
»Ich halte es fest«, sagte Caramon zu Fluß wind. »Steig ein.« Flußwind zögerte einen Moment und kletterte dann schnell über die Bootswand. Caramon half Goldmond ins Boot. Die Barbaren setzten sich ins Heck hinter Tolpan.
Caramon wandte sich an Sturm, als der Ritter näher kam. »Was geschieht da drüben?«
»Flint sagt, daß er sich eher verbrennen läßt, als in ein Boot zu steigen – zumindest würde er dann an Hitze sterben und nicht an Nässe und Kälte.«