»Ich gehe zu ihm und zwinge ihn ins Boot«, sagte Caramon. »Du wirst alles nur noch schlimmer machen. Schließlich warst du derjenige, der ihn fast ertränkt hat, erinnerst du dich? Laß das Tanis machen - er ist da geschickter.«
Caramon nickte. Beide Männer warteten schweigend. Sturm sah Goldmond, wie sie Flußwind stumm anflehte, aber der Barbar beachtete ihren Blick nicht. Tolpan zappelte auf seinem Platz herum und wollte gerade eine schrille Frage stellen, aber ein strenger Blick des Ritters hielt ihn davon ab. Raistlin wikkelte sich tief in sein Gewand und versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken. »Ich werde mal nachsehen«, sagte Sturm schließlich. »Dieses Pfeifen kommt immer näher. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Aber in diesem Moment sah er, wie Tanis und der Zwerg sich die Hand gaben und der Halb-Elf allein auf das Boot zulief. Flint blieb nahe am Waldrand zurück. Sturm schüttelte den Kopf. »Ich habe Tanis gesagt, daß der Zwerg nicht kommen würde.«
»Dickköpfig wie ein Zwerg, sagt ein altes Sprichwort«, grunzte Caramon.
»Und dieser Zwerg verbrachte hundertachtundvierzig Jahre damit, noch dickköpfiger zu werden.« Der Riese schüttelte traurig den Kopf. »Nun, wir werden ihn vermissen, das steht fest. Er hat mehr als einmal mein Leben gerettet. Laßt mich gehen, um ihn zu holen. Ein Schlag gegen das Kinn, und er wird nicht wissen, ob er im Boot oder im Bett liegt.«
Tanis rannte keuchend auf sie zu und hörte die letzte Bemerkung. »Nein, Caramon«, sagte er. »Flint würde uns das nie verzeihen. Mach dir keine Sorgen um ihn. Er geht in die Berge zurück. Steig in das Boot. Es sind jetzt noch mehr Lichter geworden. Wir haben eine Spur durch den Wald hinterlassen, der selbst ein blinder Gossenzwerg folgen könnte.«
»Es hat keinen Sinn, wir werden alle naß werden«, sagte Caramon. »Du und Sturm, ihr steigt ein. Ich werde das Boot schieben.«
Sturm war bereits im Boot. Tanis klopfte Caramon auf die Schulter und stieg ein. Der Kämpfer schob das Boot aufs Wasser hinaus. Er stand bis zu den Knien im Wasser, als sie einen Schrei vom Ufer hörten.
»Haltet an!« Es war Flint, der von einem Baum kletterte, eine vage, sich bewegende schwarze Gestalt gegen den vom Mond beleuchteten Uferrand. »Haltet an! Ich komme mit!«
»Halt!« rief Tanis. »Caramon! Warte auf Flint!«
»Seht!« deutete Sturm, der halb aufgestanden war. Die Lichter kamen aus den Bäumen immer näher, rauchende Fackeln der Goblinwachen.
»Goblins, Flint!« gellte Tanis. »Hinter dir! Lauf!« Der Zwerg duckte sich und suchte krampfhaft den Strand, eine Hand am Helm, damit dieser nicht wegfliegen konnte.
»Ich decke ihn«, sagte Tanis und nahm seinen Bogen. Mit seinen Elfenaugen war er der einzige, der die Goblins hinter den Fackeln erkennen konnte. Während Tanis einen Pfeil auflegte, hielt Caramon das große Boot bereit. Tanis schoß auf den Umriß des ersten Goblin. Der Pfeil bohrte sich in seine Brust, und er sackte zusammen. Die anderen Goblins verlangsamten ihre Schritte und griffen nach ihren Bogen. Tanis hatte einen weiteren Pfeil aufgelegt, als Flint das Ufer erreichte. »Wartet! Ich komme!« keuchte der Zwerg, tauchte in das Wasser und versank wie ein Stein.
»Pack ihn!« schrie Sturm. »Tolpan, rüder zurück. Hier ist er! Die Luftblasen...« Caramon planschte hektisch im Wasser herum und suchte den Zwerg. Tolpan versuchte zurückzurudern, aber das Gewicht des Bootes war zu schwer für den Kender. Tanis schoß wieder, verfehlte sein Ziel und fluchte. Er zog einen weiteren Pfeil heraus. Die Goblins schwärmten den Hügel hinunter.
»Ich hab' ihn!« schrie Caramon und zog den tropfenden und spuckenden Zwerg am Kragen seiner Ledertunika heraus. »Hör auf zu kämpfen«, sagte er zu Flint, dessen Arme in alle Richtungen fuchtelten. Aber der Zwerg befand sich in einem völlig panischen Zustand. Caramon wurde an seinem Kettenhemd von einem Goblinpfeil getroffen. Der Pfeil blieb stecken wie eine dünne Feder.
»Das war's wohl!« grunzte der Kämpfer atemlos, und mit einem heftigen Ruck seiner muskulösen Arme warf er den Zwerg ins Boot. Flint blieb irgendwo liegen, seine Beine hingen noch über den Bootsrand. Sturm griff ihn am Gürtel und zog ihn ganz ins Boot, worauf es beunruhigend schaukelte. Tanis verlor beinahe das Gleichgewicht und war gezwungen, seinen Bogen fallen zu lassen, um sich festzuhalten. Ein Goblinpfeil traf den Bootsrand und verfehlte Tanis' Hand um Haaresbreite. »Rudere zu Caramon zurück, Tolpan!« gellte Tanis.
»Ich kann nicht!« schrie der Kender von seinem Platz. Der Schlag eines außer Kontrolle geratenen Ruders stieß Sturm fast über Bord.
Der Ritter zog den Kender von seinem Platz weg. Er ergriff die Ruder und brachte das Boot dorthin, wo Caramon sich an einer Seite festhalten konnte.
Tanis half dem Kämpfer beim Einsteigen, dann schrie er Sturm zu. »Ruder!« Der Ritter ruderte aus voller Kraft. Das Boot schoß vom Ufer fort, begleitet vom Heulen der wütenden Goblins. Noch mehr Pfeile zischten um das Boot, als sich der triefende Caramon neben Tanis niederließ.
»Heute abend üben die Goblins Ziele treffen«, murrte Caramon, als er den Pfeil aus seinem Panzer zog. »Wir heben uns vorteilhaft gegen das Wasser ab.«
Tanis tastete nach seinem fallengelassenen Bogen, als er bemerkte, daß Raistlin sich erhob. »Halte dich in Deckung!« warnte Tanis, und Caramon wollte seinen Bruder wieder herunterziehen, aber der Magier, der beide finster anblickte, ließ seine Hand in einen Beutel an seinem Gürtel gleiten. Seine zarten Finger zogen etwas hervor, als ein Pfeil neben ihm niederging. Raistlin reagierte nicht. Tanis wurde gewahr, daß er in der Konzentration versunken war, die für einen Magier notwendig war, um einen Zauber zu bewirken. Ihn jetzt zu stören, könnte drastische Folgen haben und dazu führen, daß der Magier den Zauber vergaß oder – noch schlimmer – den Zauber verfehlte.
Tanis knirschte mit den Zähnen und sah nur noch zu. Raistlin hob seine dünne Hand und ließ die Zaubermaterie, die er aus seinem Beutel genommen hatte, langsam zwischen seinen Fingern auf das Deck rieseln. Sand, stellte Tanis fest. »Ast tasarak sinuralan krynawi«, murmelte Raistlin und bewegte dann seine rechte Hand langsam bogenförmig parallel zum Ufer. Tanis sah zum Land zurück. Die Goblins ließen einer nach dem anderen ihre Bogen fallen und purzelten zu Boden, als ob Raistlin sie nacheinander berührt hätte. Keine Pfeile zischten mehr. Goblins, die weiter entfernt waren, heulten vor Wut und stürzten vor. Aber zu dieser Zeit hatten Sturms kräftige Ruderstöße das Boot bereits außer Reichweite getragen.
»Gute Arbeit, kleiner Bruder!« sagte Caramon herzlich, Raistlin blinzelte und schien wieder in die Welt zurückzukehren, dann sank der Magier vornüber. Caramon fing ihn auf und hielt ihn einen Moment fest. Raistlin setzte sich auf, holte tief Luft und löste damit einen Hustenanfall aus. »Mit mir ist alles in Ordnung«, flüsterte er und zog sich von Caramon zurück.
»Was hast du mit ihnen angestellt?« fragte Tanis, als er die feindlichen Pfeile aus dem Boot zog und sie ins Wasser warf; Goblins vergifteten gelegentlich die Pfeilspitzen.
»Ich habe sie eingeschläfert«, zischte Raistlin durch die Zähne, die vor Kälte klapperten. »Und jetzt muß ich mich ausruhen.« Er sank gegen die Bootsflanke.
Tanis sah auf den Magier. Raistlin hatte in der Tat an Macht und Geschick gewonnen. Ich wünschte mir, ich könnte ihm vertrauen, dachte der Halb-Elf.
Das Boot glitt über den von Sternen befunkelten See. Tolpan entkorkte den Weinschlauch, den Flint irgendwie bewahrt hatte, und versuchte, dem eiskalten, zitternden Zwerg einen Schluck einzuflößen. Aber Flint, der zusammengekauert auf dem Boden lag, konnte nur schaudernd auf das Wasser starren. Goldmond versank tief in ihren Fellumhang. Ihre Stiefel waren aus weichem Leder. Wasser war in das Boot eingedrungen, als Caramon Flint ins Boot geworfen hatte. Das Wasser hatte das Leder aufgeweicht, und bald fror und zitterte auch sie. »Nimm meinen Umhang«, sagte Fluß wind in ihrer Sprache und nahm seinen Bärenfellmantel ab.